Lovecrafter #3
50 Jahre Cthulhu auf Deutsch
Pünktlich zum heißen Sommer flattert der Lovecrafter #3 in die Briefkästen der DLG-Vereinsmitglieder oder anderer interessierter Lovecraft-Fans. Auch das mittlerweile vierte Heft (wenn man die „Nullnummer“ mitzählt) hält den hohen erreichten Standard und verspricht ein langlebiges Heftprojekt.
Während die letzten beiden Hefte mit einem klaren Fokus auf einzelne Autoren daherkamen und sich Lord Dunsany und Robert W. Chambers vornahmen, richtet das aktuelle Heft seinen Blick auf die Geschichte der deutschsprachigen Lovecraft und Cthulhu-Szene. Anlass dafür ist das fünfzigjährige Jubiläum des ersten deutschsprachigen Cthulhu Sammelbandes von 1968. Passenderweise wurde mit Johann Peterka ein Illustratorenurgestein der Cthulhu-Community für die Titelillustration und einige weitere Bebilderungen gewonnen.
50 Jahre Cthulhu auf Deutsch – Der Schwerpunkt
Bereits der erste Artikel nach Vorwort und Wortgeflüster aus dem Vorstan kann ein perfekt zum Hauptthema passendes Kleinod präsentieren: Das wohl erste deutschsprachige Fanzine mit Schwerpunkt auf phantastischer Horrorliteratur. In nur knapp dreistellige Stückzahl erschien 1971 die erste Nummer von „Ganymed-Horror“, später in „Weird Fiction Times“ umbenannt. Das noch auf Matrize gedruckte Heftchen wurde von Literaturbegeisterten Schülern aus Remscheid zusammengestellt und diente im Zeitalter vor dem Internet dem Informationsaustausch und Abdruck von Essays oder Erstübersetzungen. Ein maßgeblicher Herausgeber war Uwe Anton, der der Phantastik auch bis heute die Treue hält und den Lovecraftern Rede und Antwort zum Entstehungskontext und der Bedeutung des Heftes stand. Im Besitz der vergilbten Gesamtausgabe und mit Uwe Antons fachkräftiger Unterstützung geben Jan-Nicholas Aslanidis und Steffen M. Waschul einen Überblick über dieses Kuriosum und sichten natürlich insbesondere die Artikel zu Lovecraft. Damit bieten sie einen tollen Einblick in die Kinderschuhe der deutschsprachigen Phantastikszene und entdecken in den Heften sogar bis heute wiederkehrende Debatten über den vermeintlichen „Gentleman aus Providence“. Dank des begeisterten Schreibstils und der passenden Bebilderung kann man regelrecht in diese Frühphase einsinken. Vielleicht lassen sich die Artikel einmal archivieren oder Auszüge neu abdrucken…?
Der nächste Artikel ist deutlich umfangreicher angelegt. Unter dem Motto „Kosmische Kontinuitäten“, beleuchten Interviews mit den Verlagsgrößen der Phantastik „die ersten 50 Jahre“ Lovecraft in deutscher Sprache. Mit Franz Rottensteiner vom mittlerweile in Suhrkamp aufgegangenen Insel-Verlag, Übersetzer und Herausgeber der einzigen ostdeutschen Lovecraftanthologie Erik Simon, Verleger Michael Görden, Joachim Körbe von der Edition Phantastia und Frank Festa vom gleichnamigen Festa Verlag, wurde eine namhafte Runde zentraler Figuren der deutschen Phantastikszene gefunden.
Nils Gampert gelingt es die Autoren und ihre Bedeutung über Infoblöcke vorzustellen und das Gespräch lebendig wirken zu lassen. Seine Fragen thematisieren den persönlichen Zugang zu Lovecraft, die schwere Zugänglichkeit phantastischer Literatur in der Frühphase, die Relevanz von Lovecrafts Werk und gen Ende auch dessen fragwürdige Persönlichkeit. Das äußerst umfangreiche Interview führt die Anfänge der deutschsprachigen Lovecraftrezeption bildhaft vor Augen und ist auch durch die Einblicke in die Verlagslandschaft höchst informativ.
Lovecraft und die digitale Welt
Im Gegensatz zum historischen Schwerpunktthema, will Levin Handschuh mit seinem Essay „Fear of the Known“ Lovecrafts Mythos für die Analyse gegenwärtiger Entwicklungen stark machen. Anhand von Cthulhus Ruf will er das Internet als ein überkomplexes und abstraktes Gebilde deuten, das wie Cthulhu selber im Untergrund schlummert, aber doch international mit Menschen kommuniziert. Die Analogieschlüsse wirken oft etwas kurz und dafür umso provokanter. Cthulhus Ruf sei so heutzutage „das Signal einer eintreffenden Facebook-Nachricht“ und der Transhumanismus wird unumwunden mit der Degenerationsvorstellung des Naturalismus identifiziert. „Ist der Sprung vom Fisch zur Platine so groß?“ – Man ist versucht ebenso provokativ zu antworten: „Ja, ein unendlicher!“
Über Themen der Abstraktion und Überkomplexität gewinnt der Artikel durchaus richtige Parallelen zu Lovecrafts Werk, die aber weniger über das Internet als über die Diskussionslage der 20er Jahre aussagen. Seit Simmel oder dem Entfremdungstheorem sind solche Überlegungen keine Neuigkeit mehr und die Aktualisierungen im Essay bleiben zu dünn um wirklich die Gegenwart zu treffen. So endet der Artikel dann auch mit dem Aufruf überhaupt erst zu prüfen, welche Konsequenzen aus dem Mythos für die Gegenwart gezogen werden können, ohne wirklich selber Anregungen zu geben.
Ähnlich unbefriedigend ist auch die Parallelführung von Pickmans Modell mit politischer (in)correctness – dem vielleicht erfolgreichsten Kampfbegriff der neuen Rechten – und ‚trigger warnings‘. Letztere würden vor Kunst warnen die uns „unangenehm sein könnte“, womit hier gesellschaftskritische wahrheiten gemeint sind. Das übersieht jedoch, dass mit dem Konzept nicht unangenehme Wahrheiten tabuisiert werden sollen, sondern das Instrumentarium erst einmal den Zweck verfolgt, vor Retraumatisierungen zu schützen. Auch der gegebene Lesetipp zu Robert Pfaller weist eher in eine überdramatisierende und wenig plausible Richtung. Selbst wenn man den Themenkomplex anders einschätzt, dürfte die Parallele zu Pickman jedenfalls nicht wirklich überzeugen. So erweitert der Artikel das Heft um eine streitbare Position, die – vielleicht aus Platzgründen – etwas schnell entwickelt wird und so eher Assoziationen liefert als innovative Interpretationen. Dennoch bringt er eine Perspektive ins Heft die angenehm über Literaturgeschichte und Spielekultur hinausgeht.
Am Spieltisch
Mit dem FHTAGN-Projekt arbeitet die DLG an einem offenen Cthulhu Rollenspiel. Zwei umfangreiche Artikel versorgen uns für dieses Vorhaben – und jedes andere Cthulhurollenspiel – mit Spielmaterial.
Passend zum Schwerpunktthema, wird sich im ersten Artikel wieder dem Schicksalsjahr 68 gewidmet, diesmal jedoch mit Blick auf die Bundesrepublik der Zeit als Rollenspielhintergrund. Der Artikel bemüht sich dabei um viel praktische Anwendbarkeit. Fünf Themen – Studentenproteste, Nazialtlasten, Drogenrausch, Massenmedien und die Mondlandung – werden je auf etwa einer Seite vorgestellt und direkt in einer ähnlich umfangreichen Szenarioidee praktisch angewendet. Mit geschmackvoll geschmacklosen Hintergrundartwork und passender Bebilderung führt der Artikel so stimmungsvoll in die bewegten 68er, verlangt aber von Spielleitern einige Nacharbeit.
Deutlich konkreter ist „Der treibende Holländer“ von Marcus Rosenfeld. Das Abenteuer hat den letztjährigen FHTAGN Abenteuerwettbewerb gewonnen und führt die Charaktere auf dem Deck des Passagierschiffs Silverstar nach Malaga. Dort treffen sie auf das titelgebende Schiff und natürlich eine bedrohliche Wahrheit. Fünf vorgefertigte Charaktere und zwei äußerst gelungene ganzseitige Illustrationen von Detlef Klewer runden das schnell vorzubereitende Abenteuer ab.
Noch minimaler als beim eh schon schlanken FHTAGN geht es bei Cthulhu Dark zur Sache. Das Rollenspiel von Graham Walmsley kommt mit wenigen W6 und vier Seiten Regelwerk (pdf) aus. Es eignet sich, dem Rezensenten André ‚Seanchui‘ Frenzer zu Folge insbesondere für Oneshots und ist für Kampagnenspiel eher ungeeignet.
Den Abschluss des Heftes macht schließlich der zweite Teil der im vorhergegangenen Heft begonnen Reihe über Cthulhu-Brettspielumsetzungen. Hier stellen Isabel und Ulrich Thomas die drei großen Arkham-Files Spiele: Villen des Wahnsinns, Arkham und Eldritch Horror vor. Statt die Mechaniken zu diskutieren, konzentrieren sie sich auf die Frage wie die Spiele das Mythosgefühl vermitteln. Der Anspruch ist angenehm anders und ein im miskatonischen Forscherstil gehaltener Schreibstil lockert die Reihe neben der schicken Bebilderung zusätzlich auf. Die Beurteilung hätte jedoch etwas umfangreicher ausfallen können, zumal der Ansatz nach ‚Ermittlungsspielen‘ zu suchen auch den Autoren selber etwas fragwürdig vorkommt. Da bei Lovecraft die Investigation selber eher das Vehikel ist um Atmosphäre und Grauen aufzubauen, scheint mir die frage tatsächlich etwas falsch gestellt. Spannend wäre vor diesem Hintergrund außerdem auch, wie die beiden Forscher den Neuling der Arkham Reihe: das Arkham Horror Living Card Game einordnen. Die Frage nach Lovecraft im (Brett-)Spiel dürfte damit jedenfalls noch lange nicht abgeschlossen sein.
Gesamteindruck
Die Tatsache, dass ich den neuesten Lovecrafter an einem Tag verschlungen habe, sollte für sich sprechen. Dank professionellem Lektorat und Layout ist das Heft optisch ein reiner Genuss. Auch der Inhalt hält was das heft äußerlich verspricht. Hier wird keine Seite verschwendet und durchweg informative cthuloide Kost geboten. Das Vereinsmagazin ist in dieser Form einzigartig und das wohl aufwändigste und ansprechendste Produkt seiner Zunft. Gerne darf es auch ein 50 Jähriges Jubiläum des Lovecrafters geben. Nicht nur weil mich Retro-Rollenspiel in den 2010ern interessieren würde…
Alle bisher erschienenen Ausgaben des Lovecrafters können exklusiv über den Cthulhu-Webshop bezogen werden.
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