LARP Gruppen 2: Chronik “Lifeline” – Spielen ohne Spielleitung

Ein Gastbeitrag von Jonas

Hier gibt es nun unseren zweiten Artikel über Larpgruppen. Dieses mal ein Gastbeitrag von Jonas, der uns etwas über seine Vampire Live Gruppe erzählt, die ein etwas anderes Konzept verfolgt. Nach wie vor gilt natürlich: Falls also unter den Lesern sich ein paar LARPer befinden die gerne etwas über ihre Gruppe oder ihre Cons erzählen wollen, setzt euch bitte mit mir in Verbindung! -Caninus

LARP ohne SL?
Wir, das Lifeline-LARP aus Bielefeld/OWL, spielen Vampire Live. Das allein ist zwar schon eine tolle Sache, aber an sich noch nichts Besonderes, gibt oder gab es doch in so gut wie jeder größeren Stadt mindestens eins davon. Klassischerweise wird es in Spielergruppen um die 10-30 Personen gespielt, von der mindestens eine/r SpielleiterIn ist. Der angestrebte Spielstil ist dabei das “Intrigenspiel”, oder “Plot & Poison” (In Abgrenzung zum eher actionlastigen „Sword & Sorcery“-Genre).
Die Aufgabe der Spieler besteht dann darin, miteinander gegeneinander zu spielen, während die SL kleinere oder größere Plots ins Spiel bringt und diese ggf. durch NSCs antreiben lässt, sowie sich um die Buchführung des Spiels (Charakterwerte etc.) kümmert. Eine der wichtigsten und undankbarsten Aufgabe der SL ist natürlich auch die Organisation des geregelten Spielablaufs: Die Location, Musik, Getränke und ein Aufhänger für den Spielabend müssen gesucht, gefunden und gesichert werden.
Gleichzeitig hat die SL auch die Aufgabe, das Spiel zu lenken – und das kann für die Spieler auf mitunter unbefriedigende Weise geschehen. Ich erinnere mich an ein Erlebnis in einem Vampire-Live, in der ich mehrere Sessions eine Intrige schmiedete und kurz vor deren Showdown der bis dahin verborgen im Hintergrund laufende Werwolf-Plot der Spielleitung hereinplatze und sich mein Intrigenopfer in den mörderischen Klauen des Werwolfs wiederfand. Natürlich war das für mich total unbefriedigend (wenn auch sicher keine böse Absicht des Spielleiters). Doch nicht nur wurde ich “meines” Sieges beraubt – ich hatte gar keine Lust, gegen “Feinde von außen” zu spielen. Ich hatte schon meine Feinde – nämlich die Charaktere meiner Mitspieler. f9t570p4436n2_VOFNTrtp
Natürlich hört man noch von viel schauerlicheren Situationen im Vampire Live, in denen durch subjektiv empfundene “SL-Willkür” Spielern die Freude am Spiel genommen wird (Oft wird dem Hauptverantwortlichen des Spiels aber auch einfach nur die Schuld gegeben, ohne dass er sie tatsächlich trägt). Auf derartige Probleme möchte ich gar nicht weiter eingehen, denn es gibt auch viele Spielrunden, in denen die Spielleitung einen meiner Meinung nach ordentlichen Job macht, das Spiel plant, organisiert, unwichtige Nebenfiguren darstellt, Regelfragen klärt usw. – Dann hat man als Spielleitung jedoch oft wenig Spaß und viel Arbeit und im Zweifel natürlich Schuld am Misslingen des Spiels.
Ein ungewollter Nebeneffekt kann auch sein, dass die Spielerschaft auf den Plot der SL “wartet”, anstatt selbst etwas Spannendes zu starten. Manchen Spielern liegt dieser Spielstil, ich aber wäre gefrustet von einem Spielumfeld, indem alle nur darauf warten, dass irgendetwas Spannendes ohne ihr eigenes Zutun passiert.
Meine Wahrheit ist: Wenn dir im Spiel langweilig ist, dann tu selbst etwas dagegen! Es ist nämlich ganz alleine deine Schuld, wenn nichts passiert. Suche dir eigene Ziele und Herausforderungen und mach deinen eigenen Plot.
Aber ist man bei dieser Wahrheit angekommen, wozu braucht man dann überhaupt noch eine Spielleitung?
Wie ich schon sagte: Die SL muss den Plot machen, Regelstreitigkeiten klären, das Spiel organisieren und die Buchführung übernehmen. Alles davon – bis auf den Plot – sind wirklich undankbare Aufgaben, das weiß jeder, der den Job schon einmal machen musste. Warum sollte man diese Arbeit nicht auf alle Spieler gleichmäßig verteilen?
Diesen Gedanken musste wohl Andreas „Rabenaas“ Schroth gehabt haben, als er das Spielleiter-Sein an den Nagel hing und ein Regelwerk auf die Beine stellte, das einem erlaubte ganz ohne SL zu spielen. Auch wir in Bielefeld starteten das Experiment „SL-loses LARP“, inspiriert von Aas‘ genialer Idee.

Wie also funktioniert das Spiel ohne SL?
Jeder Mitspieler hat gleichermaßen die Chance, das Spiel mitzubestimmen, als auch die Verantwortung, zum Gelingen des Spiels beizutragen. Nach zwei Jahren Erfahrung mit dem Spielstil, haben wir für uns folgende Lösung gefunden:
Jeder Spieler hat das Recht, eine organisatorische Aufgabe zu übernehmen. Zum Beispiel könnte er sich um das Anleiten neuer Mitspieler kümmern, sich um die Beschaffung von Locations, Getränken oder Wartung von Requisiten kümmern, die Forenadministration übernehmen, Neuspieler coachen, Protokolle führen, seine Mitspieler schminken oder ein Fahrer sein. Jede Aufgabe, die dem Spiel förderlich ist und im Rahmen der Möglichkeiten des Mitspielers liegen, ist legitim. Im Gegenzug haben alle Mitspieler, die sich dazu verpflichtet haben, eine Aufgaben zu übernehmen das Recht, an Stammtischen über das Spiel mit abzustimmen (Für weit entfernt lebende Spieler hat sich mittlerweile eingebürgert, diese per Skype hinzu zu schalten). Wem das zu viel Verantwortung ist, er wenig Zeit hat oder einfach mal „Urlaub“ machen will, der sagt uns das und darf dann auch gerne mitspielen, ist jedoch aus dem Entscheidungsprozessen vorerst ausgeschlossen, bis er sich dazu entscheidet wieder „voll einzusteigen“.
Der Stammtisch bildet dabei das wichtigste Instrument zum Gelingen des Spiels. Dort treffen wir uns, planen die nächsten Session (Wo, wer, warum, wann?), reflektieren über das Spiel (Was läuft gut, wo hakt es? Wo kann man einen Konflikt noch entstehen oder eskalieren lassen) und vernetzen neue Charaktere mit den bestehenden Charakteren im Spiel. Gerade der letzte Punkt hat sich als extrem wichtig herausgestellt: Möchte man, dass man genug Plotpotential im Spiel hat, ist es notwendig, dass sich die (meisten) Charaktere untereinander schon kennen, Motive zur Rache haben, Familienbande und ideologische Gemeinsamkeiten haben. Ein cooles Nebenprodukt dieser Vernetzungen ist zum Beispiel, dass Vampire des selben Clans in unserer Domäne fast immer miteinander direkt oder indirekt verwandt sind, so dass Familienstreitigkeiten, erdrückende Erwartungen von Dynastien auf Frischlinge oder der Wunsch nach Unabhängigkeit für viel Potential sorgt.f9t570p4436n3_JiwFfNCR
Natürlich kann man ohne eine „allwissende“ SL bestimmte Plots nicht spielen, ohne dass sich dafür Spieler finden, die ebenfalls Bock drauf hätten. Deshalb entschieden wir uns für ein regionales, enges Setting: Wir spielen „Vampire: The Requiem“. In Requiem sind Vampire in ihrem Wesen deutlich territorialer und bestialischer als im (hierzulande bekannteren) Vorgängerspiel „Vampire: The Masquerade“ und verlassen nur unter den schlimmsten Umständen ihre Heimat. Jene Vampire, die einen derartigen Exodus vollziehen müssen, sind also meist Verbannte, oder Verbrecher – und werden entsprechend als „ungebetene Gäste“, als „Fremdes Raubtier im Revier des Rudels“ angegangen, denn warum sollte es denn ausgerechnet bei diesem Neuankömmling anders sein als mit den Barbaren und Mördern, die vor ihm kamen?
Das hat für uns den Vorteil, dass wir für die Außenwelt jenseits der Domänengrenze keinerlei festen Kanon benötigen, was andere Städte, ihr jeweiliges Nachtvolk und dessen lokale Gegebenheiten und Sitten angeht. Bei uns gibt es nur die Vampire, die auch tatsächlich gespielt werden – und einige unbenannte Vampire, die sich vom „Hofgeschehen“ derzeit etwas zurückgezogen haben und somit keine Spielrelevanz haben, damit auch Neuspieler bereits ansässige Vampire spielen können.
Unser Spielfokus liegt damit natürlich nicht auf epischen Geschichten riesiger Vampirnationen, die einen seit Jahrtausenden andauernden Krieg führen – oder wie in Underworld: Werwolf vs. Vampir. Wir bespielen mit unserem Szenario eher ein auf persönlichen und lokalen Konflikten fußendes Drama, in dem die Entwicklung der einzelnen Charaktere und deren Beziehungen untereinander im Vordergrund stehen.
Dadurch, dass wir uns regelmäßig (min. einmal im Monat) treffen, ist unsere Geschichte in ihrer Erzählstruktur auch einer Serie viel ähnlicher, als einem Film. LARP-Cons sind im Optimalfall wie Filme: Eine klare Geschichte wird erzählt und vielleicht gibt’s im nächsten Jahr eine Fortsetzung. Vampire Live im Allgemeinen und unseres im Besonderen ist eher wie eine fortlaufende Sendung: Ohne festes Ende entwickeln sich Charaktere immer weiter, scheiden aus dem Spiel aus, neue kommen hinzu… Und trotzdem fiebert man mit seinen Lieblingen irgendwie immer mit.
Damit man ohne SL spielen kann, muss natürlich auch das Regelwerk möglichst einfach sein – Denn nichts sprengt einen netten Abend so sehr, wie die entstandene OT-Blase einer Regeldiskussion.
Eine einfache Regel für das Konvertieren eines Settings ist, nur das Setting und nicht die Regeln konvertieren zu wollen. Deshalb verzichten wir auf Charakterwerte wie Attribute Fertigkeiten und Willenskraft auf Proben und auf Rechnereien. Unsere Charakterblätter bestehen hauptsächlich aus dem Namen eines Charakters, seinem dunkelsten Geheimnis (Im Forum in Spoilerklammern versteckt), drei unveränderliche Charaktereigenschaften, Clan (seine Vampirart), Bund (seine Ideologischen Überzeugungen), Lebens-/Blutpunkten und einigen Live darstellbaren Vorteilen (Vorteile könnten aber z.B. auch einen Charakterwert steigern, oder eine Hintergrundaktion ermöglichen) und Vampirkräften. Ein Beispiel für in unserem Sinne „gelungene“ Konvertierung ist die Kraft „Gestaltwandeln“, die einem im PnP beispielsweise erlaubt, sich in Tiere zu verwandeln. Das wäre im Live aber nur durch massives und für manche Spieler auch immersionsstörendes Telling möglich; wir glichen die Kraft daher auf jene Art von Verwandlungen an, die gleichzeitig stimmig und trotzdem noch glaubwürdig per Kostüm darstellbar sind.
Hauptsache es stört den Spielfluss nicht und bringt Möglichkeiten für den Spieler.
Manche Spieler wünschen sich aber auch eine möglichst detailgetreue Übersetzung des PnP ins Livespiel. Das können wir nicht bieten. Ohne eine SL, die ein Tier spielt, mit dem ein Vampir durch seine Vampirkraft Tierhaftigkeit spricht (und bestimmt, was dieses Tier weiß und was nicht), kann diese Kraft mit unseren Regeln schlichtweg nicht dargestellt wird.
Andere Spieler stehen auf epische Geschichten, oder auf „Players vs. Enviroment“. Für Vampire-LARPER, die gerne auf Werwolfjagd gehen würden oder Krieg mit der Nachbarstadt spielen wollen, sind wir ganz klar die falsche Spielrunde. Das wird es aufgrund unseres Settings und Spielstils nicht geben und würde sich mit unseren Regeln eben auch nicht leicht darstellen lassen.
Auch Spieler, die sich schwer tun, selber Ziele im Spiel zu suchen, werden bei uns nicht glücklich werden. Es erfordert viel Eigeninitiative in einem LARP ohne festen Plot zuspielen und jeder Mitspieler, der „einfach nur reagiert“ und „mitschwimmt“, bremst unser Spiel aus. Das heißt nicht, dass wir solche Spieler gleich rausschmeißen würden, nur unserer Erfahrung nach werden sich bei uns nur auf kurz oder lang eh langweilen und vermutlich auch immer seltener angespielt werden.
Aber genau da hilft solchen Spielern auch schon unser neustes kleines „Gimmick“: Kürzlich führten wir eine Regel ein, die dem Veranstalter eines Spielabends die Möglichkeit gibt, Questen zu vergeben und diese mit EP zu belohnen, die er aus seinem eigenen EP-Pool „spendet“. So entsteht nicht nur noch mehr Motivation, das Abendthema zu bespielen, sondern man bekommt eine zusätzliche Möglichkeit sich „Einflussnahme“ auf das Spielgeschehen zu erkaufen (Sonst kann man EP in Vorteile und Kräfte investieren, um durch diese sich zusätzliche Spielmöglichkeiten zu erwerben). Selbst langweilige oder ausgenudelte Abendthemen wie „Kunst-Galerie“ können so nochmal spannend werden, wenn die Questen gut gewählt sind („Klau ein Kunstwerk“, „Wiedersprich dem Fürsten in jedem Werturteil über die ausgestellten Kunstwerke“ „Schimpfe über jedes Kunstwerk von XY“, „Lobe jedes Kunstwerk von XY“, „Behaupte, der Aussteller hätte dir das Kunstwerk gestohlen“ usw.) Auch ohne diese Questen passieren natürlich coole Szenen – über Questen hat der Veranstalter nur eben noch die zusätzliche Möglichkeit, sich bestimmte Szenen oder Konflikte zu wünschen – Und seine Mitspieler zu belohnen, wenn sie seine Wünsche an den Abend erfüllen.
Zum Ende einer Session setzen wir uns dann zusammen, geben einander noch einmal Feedback, bedanken uns bei unseren Mitspielern für coole Szenen und dafür, dass sie uns so wunderbar böse Gegenspieler waren, die es uns im Spiel nie leicht machen. Das größte Kompliment, das man uns im Spiel machen kann, ist gegen unseren Charakter vorzugehen – Denn dann stellen wir unseren Charakter für unsere Art des Spiels genau richtig dar.
Wir sind die Vampire Livechronik „Lifeline“. Wenn du mehr über unser Spiel wissen willst, besuche uns doch mal in unserem Forum: http://requiembielefeld.xobor.de/, oder schreib mich an.

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