Das Leben eines Gezeichneten – Teil 23
Unstillbare Gier - Teil 6
25 Hesinde
Der Morgen begann in etwa so ungemütlich wie der Abend zuvor geendet hatte – auf dem Fußboden in der Eingangshalle. Glücklicherweise waren weder erzürnte Dorfbewohner, noch seltsame namenlose Dämonen zu Besuch gekommen, so dass wir uns – abseits von Schlafmangel – auf den Weg zurück ins Dorf machen konnten.
Leowulf wollte auf jeden Fall einen Tag lang im Rondratempel verbringen. Weil seine Göttin uns ja geholfen hätte den Kampf gegen den Unhold zu bestehen und er ihr danken wollte. Was hatte er denn schon großartiges geleistet? Vor die Füße des Barons ist er gefallen. Und letztlich habe ich den Baron getötet, nicht er. Ich wollte gerne weiter, aber auch das war nicht ganz so leicht. Die Karte zeigte mir keinen direkten Weg nach Westen, sondern nur die Möglichkeit wieder über Baliho zu fahren, und das wäre ein großer Umweg. Unser Kutscher meinte jedoch, dass es eine Straße geben würde, nur müsste er diese erst erfragen…
Wir blieben also einen weiteren ungenutzten Tag in diesem Dorf, dass nichts zu bieten hatte. Latu hatte dafür gesorgt, dass ein Botenreiter den Herzog über den Tod des Barons informierte und ich legte mich den Rest des Tages ins Bett.
26 Hesinde
Früh am morgen brachen wir auf in Richtung Westen, über eine kaum vom Umland zu unterscheidende Straße, da der Winter die letzten beiden Tage viel Schnee mit sich gebracht hatte. Es war noch immer kalt und wir saßen alle schweigend in der Kutsche als plötzlich ein Geräusch von draußen ertönte und der Kutscher die Kutsche anhalten ließ.
Ich sprang, wie auch die anderen, aus der Kutsche hinaus um vor ihr einen Mann im Schnee liegen zu sehen. Ein bewusstloser Mann mit sehr unpassender Kleidung für diese Witterung. Latu und Leowulf trugen ihn in die Kutsche hinein und Greifwin machte sich dahingehend nützlich, dass er dem Mann die Taschen durchwühlte…
Er hatte schon fast schwarz gefrorene Gliedmaßen und war den Toten näher als den Lebenden. Endlich mal die Möglichkeit den reversalierten Fulminictus zu gebrauchen. Und er schien auch funktioniert zu haben, denn die Farbe der sichtbaren Körperteile veränderte sich in eine gesündere und nach einer Weile kam er auch zu sich. Wir setzten ihn so hin, dass er bequem gegen eine der Außenwände lehnen konnte und sahen ihn aufmerksam an.
Er stellte sich uns als Deschelef ibn Jassafer vor. Ein Mann den ich nun wirklich nicht hier erwartet hätte, immerhin war er meines Wissens nach Spektabilität der Akademie zu Rashdul und hatte hier im Hohen Norden nichts verloren. Und seine Kleidung sagte dies ebenfalls. Vielleicht hatte er es sich mit einem Dschinn verscherzt, der ihn hier in den Norden transportiert hatte?
Ich lag falsch, denn nach einigen weiteren seiner Erklärungen zeigte sich, dass er durchaus absichtlich hier oben war, und nicht mit einer solchen Kälte gerechnet hatte. Er untersuchte hier die Vorkommnisse auf den Kraftlinien, außerdem hatte er wohl vor einiger Zeit eine Vision gehabt, die ihm offenbarte, dass sich schreckliches hier oben zeigen würde. Ich dachte sofort an die erlebten Ereignisse in Dragenfeld, aber die meinte er nicht, sondern kommende,
am nächsten Neumond.
Wir beschlossen ihn zunächst mit zum nächsten Dorf zu nehmen und weitere Fragen zu stellen.
Der Magier war wieder eingeschlafen, während wir den Rest der Streck bis zu dem kleinen Örtchen Tannenberg zurückgelegt hatten. Das Dorf bestand einzig aus fünf kleinen Hütten und einer Schänke, die offensichtlich auch als Gasthaus herhielt, denn sie hatte einen geräumigen Innenhof in dem unsere Kutsche bequem Platz fand.
Ich betrat, gefolgt von den anderen, als erster den Schankraum und sah mich mit einem Haufen seltsam mürrischer Blicke von den ansässigen Dorfbewohnern konfrontiert. Vermutlich hatten sie noch nie einen Magier, geschweige denn einen in einer schwarzen Gewandung gesehen.
Ich schlenderte mit bewusst auffälligen Bewegungen zur Theke hinüber und fragte nach den Übernachtungsmöglichkeiten des Hauses. Einzig einen Schlafsaal hatte das Gasthaus zu bieten. Da aber zurzeit keine weiteren Reisenden hier wohnten, hatten wir den Schlafsaal für uns alleine. Leowulf und ich trugen unser jeweiliges Gepäck nach oben. Die anderen ließen es sich nicht nehmen und gaben ihr Gepäck dem daraufhin völlig überladenen Sohn des Wirtes.
Der Raum war weder groß noch gemütlich, aber immerhin relativ warm und wir bekamen ihn für umsonst. Man achtete die Herrschaft des Herzogs. Nachdem ich mein weniges Gepäck abgelegt hatte, begab ich mich wieder nach unten um mit den anderen zusammen ein karges Mahl mit wenigen Brocken unidentifizierbarem Fleisches zu mir zu nehmen.
Während der Mahlzeit versuchten wir die anderen Dorfbewohner nach verschwundenen oder gar Toten in der Gegend zu fragen, und erhielten die Auskunft, dass im Nachbardorf eine Soldatin verschwunden wäre, die jemanden auf einem kleinen Wachturm gesehen hatte, und nachsehen gegangen ist.
Unser halb erfrorener Magier warf ein, dass hier genau auf dem Gebäude eine Kraftlinie verlief… oder besser gesagt, das Gebäude auf einer Kraftlinie erbaut worden war. Latu äußerte die Vermutung, dass der Turm vielleicht ebenfalls auf der Linie lag, und daher Ursache für das Verschwinden sein könnte. Ich glaubte da nicht wirklich dran, aber der Elementarist war ganz begeistert von der Idee und rannte nach draußen in den Schnee.
Ich folgte etwas ungläubig, ebenso wie Latu und Leowulf und stellte mich mit skeptischem Blick nahen des Magiers auf, der angefangen hatte in den Schnee vor dem Haus einen Beschwörungskreis für Elemente zu malen. Welches er rufen wollte war mir jedoch nicht ersichtlich. Ich vermutete Eis oder Luft, aber als er nach einem Abstecher zurück in den Schankraum mit einer Fackel wiederkehrte, ahnte ich, dass er es mit Feuer versuchen wollte. Er musste irgendwann im Schnee seinen Verstand verloren haben. Oder vielleicht ja auch schon vorher… vermutlich war es kein Wunder, dass man ihn aus seiner Akademie vertrieben hatte. Ein Feuerelementar mitten im Winter im Schnee… muss ich noch mehr sagen?
Seine Begründung hingegen war noch abenteuerlicher. Weil es doch schon so kalt wäre, wollte er es nicht noch kälter machen… es erschien ein kleiner Feuerelementar in den Flammen in Gestalt eines Salamanders, der eifrig nickte und sich dann auf den Weg machte. Leowulf fragte, wie lange das wohl dauern würde bis wir eine Antwort hätten, und er antwortete drei Stunden… Drei Stunden? Ich murmelte leise, dass ich das aber besser und schneller hinbekommen hätte, beließ es aber dabei. Dafür beschwört man doch keine Diener! Was lernen die da in Rashdul eigentlich.
Ich kehrte wieder zurück ins Warme, und machte mich auch direkt auf in den Schlafsaal. Auf der Treppe sah ich etwas sehr merkwürdiges. Vor mir zeigte sich ein Raum mit Steinen an der Wand und eine Treppe. Ich wurde hoch gehoben und auf einem Platz niedergelegt. Kurz zeigte sich eine undefinierbare Gestalt am Rande der Wahrnehmung, aber es war vorbei ehe ich einen genaueren Blick werfen konnte.
Was mochte das gewesen sein? Eine Vision? Vielleicht hatte das Auge noch Kontakt zu mir… Mir fielen die Ereignisse, die ich bisher erfolgreich verdrängt hatte wieder ein und ich stockte kurz. Konnte es sein? War es noch irgendwo in der Nähe? Ich wusste es noch immer nicht, aber wenn noch eine Verbindung bestand, dann hatte ich die Möglichkeit es zurückzuholen! Ich schüttelte die Gedanken ab und stieg die Treppe weiter hinauf.
Er hatte sein Buch oben liegen gelassen. Das versprach wenigsten interessant zu werden. Leider war es magisch gesichert und versetzte mir einen Schlag, als ich es öffnen wollte. Aber dadurch lass ich mich nicht einfach aufhalten. Ich warf einen Odem und einen Analys auf das Buch, nur um zu sehen, dass es wohl auf Berührung durch lebendes reagierte und nicht durch einfache Berührung. Ich sah mich im Raum um und entdeckte Latus Speer an der Wand. Genau das richtige zum Umblättern. Einen Sicherheitsabstand von einem Schritt Entfernung einnehmend öffnete ich den Buchdeckel. Nichts geschah. Dann schlug ich eine wahllos ausgesuchte Seite – mit einem Speer ist die Blättermöglichkeit arg begrenzt – auf und trat näher heran um zu lesen.
Natürlich suchte sich Leowulf jenen Moment aus um die Treppe hinauf zu poltern. Entnervt klappte ich das Buch wieder zu und begab mich zur Ruhe.
27 Hesinde
Schon wieder Kutsche und das Wetter war unverändert kalt, aber es schneite nur geringfügig. Der Magier war im Dorf geblieben, er wollte von dort die Linie weiter erforschen… na ja, muss er ja wissen. Vermutlich wird ihn später jemand erfroren im Schnee finden. Wir hatten beschlossen uns bei besagtem Turm umzusehen und nach der verschwundenen Soldatin zu suchen.
Plötzlich schwankte die Kutsche und hielt an. Ich beugte mich aus dem Fenster um nachzusehen, was uns jetzt schon wieder aufgehalten hatte, und ich wurde von oben gepackt und nach oben gezogen. Ich konnte meinen Angreifer nicht sehen und mich auch nicht äußern, aber Latu und Leowulf mussten etwas bemerkt haben, denn Latu hielt mich fest und Leowulf kletterte von der anderen Seite auf das Dach der Kutsche und verscheuchte so den Angreifer, der mühelos von der Kutsche sprang und im Dickicht des Waldes links von der Kutsche verschwand.
Es sah aus wie ein kleiner Goblin, und es verwirrte mich etwas, dass er die Kraft haben sollte mich aus der Kutsche zu ziehen. Ich sah mich nach den anderen um. Sie waren derselben Meinung und wir verließen die Kutsche um dem kleinen Kerl zu folgen. Greifwin blieb bei der Kutsche um darauf acht zu geben.
Latu ging voraus und führte uns durch den lichten Wald bis wir an einem Baum angelangten in dessen Zweigen einen Frau hing. Eine tote Frau. Mit einem Holzsammelbehälter auf dem Rücken. Ich lieh mir Latus Speer aus und stieß sie vom Baum. Sie war offensichtlich an großen Krallen gestorben, die sich in ihren Rücken gebohrt hatten. Also kein Goblin, wir zogen weiter und erreichten dann den Eingang einer Höhle vor dem die Spuren endeten. Im Inneren war es dunkel und ich entzündete meine Fackel und betrat als erster die Höhle. Die Wände schimmerten in einem rötlichen Ton und als ich sie näher ins Auge fasste sah ich die Blutspritzer und Leicheteile auf dem Boden vor uns. Latu behagte das ganze wenig und er kehrte zurück nach draußen in seinen geliebten Schnee.
Leowulf und ich machten uns dran die Höhle weiter zu untersuchen. Nach dem blutigen Eingang teilte sich die Höhle in zwei Gänge auf. Ich wählte – wie immer – den linken. Dieser führte zu einer großen Höhle, von der wieder vier Gänge abzweigten. Leowulf hatte mit seiner Rüstung einige Probleme an den engen Stellen und ich musste ihm mehrmals behilflich sein. Ja, so sind sie die
Krieger…
In einem der Gänge fanden wir einen kleinen Altar mit einem Bären und einem weißen Hirsch drauf. Ein Firunsschrein. Das würde Latu interessieren. Und ein wunderbarer Punkt für mich bei seiner Totenangst anzusetzen. Die Höhle an sich war nass und kalt, an einigen Stellen hingen große Eiszapfen, die ich bequem mit meinem Stab markieren konnte und an weiteren Stellen lag Schnee in der Höhle.
Die Höhle stellte sich als relativ groß heraus und wir wollten nicht alleine so lange darin herumlaufen, und außerdem wollten wir Latu nicht vor dem Eingang stehen lassen. Wir begaben uns also auf den Rückweg und den Ausgang schon fast vor Augen hörte ich ein seltsames Quieken von vorne. Da waren vorher Ratten bei den Leichenteilen gewesen, aber das Geräusch war etwas zu laut für eine kleine Ratte.
Ich stolperte fast über einen Kopf vor meinen Füßen, der sicherlich vorher noch nicht dort gewesen war und als ich wieder aufsah erhellte mein Fackelschein sodann eine massige Gestallt mit Schwanz und verfilztem Fell, die auf uns zu rannte und den Weg versperrte. Es folgten ihr einige normale Ratten, die sich dann an ihr vorbeischlängelten und mich in ein Bein bissen. Abgelenkt konnte ich dem Krallenhieb des Rattenmannes nicht mehr ausweichen und er erwischte mich an meinem Arm. Leowulf konnte nicht an mir vorbei schlagen und so musste ich es alleine mit dem Tier aufnehmen.
Es kämpfte geschickter als es aussah und wich meinen Angriffen mühelos aus. Ich schaffte es nicht es anzuzünden und sah mich schon tot in der Höhle liegen, als Latu zu uns stieß und es von der Seite attackierte. Noch immer hatte ich kaum eine Chance und das Tier agierte so schnell, dass es fast vor meinen Blicken verschwamm. Als letzte Hoffnung wob ich einen Tempus Stasis um mich und schlüpfte um das Tier herum auf die dritte Seite, so dass Leowulf eine bessere Chance hatte es zu erwischen. Mit letzter astraler Kraft setzte ich einen Brenne
auf das Fell der Ratte und stützte mich auf meinen Stab um nicht umzufallen.
Als die Zeit wieder lief, sprang das Tier auf und lief an der Decke entlang ins Dunkel. Ich ließ mich fallen und Leowulf brachte mich in die große Höhle außerhalb der Reichweite der kleinen Ratten. Mein Körper fühlte sich so zerschunden an, wie lange nicht mehr und ich war kurz davor das Bewusstsein zu verlieren. Ich schloss mein eines Auge und lauschte den entfernt ertönenden Geräuschen von schweren Stiefeln auf Steinen, als mich etwas an den Schultern
packte und langsam nach außen zog. Ich öffnete meine Auge wieder aber konnte aus meiner Position nichts erkennen und musst mehr oder weniger hilflos mit ansehen, wie die Welt um mich wieder heller wurde, und der Stein unter meinem Rücken zu Schnee. Wieder Schritte, lauter diesmal und Leowulf tauchte in mein Gesichtsfeld.
Er verscheuchte was auch immer da war und Latu versuchte hinter ihm her zu jagen um es zu erwischen und entschwand wieder meinem Sichtbereich. Nach einer ganzen Weile hörte ich aus dem Inneren der Höhle das tapsen von nackten Füßen. Ich hob meinen Kopf leicht, nur um festzustellen, dass die Ratte wieder da war, sich aber penibel vom Schnee entfernt hielt. Mir kam eine Idee. Latu war zurückgekehrt und beschoss das Tier mit seinen Pfeilen, und ich formte einen
kleinen Schneeball und warf es auf die Riesenratte – und traf. Sie heulte auf und verging zu Asche.
Ich verlor das Bewusstsein und glitt in eine tiefe Schwärze. Es konnten nur wenige Augenblicke vergangen sein, denn die Welt sah noch aus wie vorher, als ich mein Auge wieder öffnete. Mit einem Unterschied. Ich sah zwei Bilder, die sich übereinander geschoben hatten, wie es normalerweise bei zwei Augen der Fall ist, aber das zweite Bild zeigte etwas völlig anderes. Eine Steinwand und eine Klaue von einem Vogel. Die Perspektive war niedrig und doch hoch. Ich konnte es nicht einschätzen, hatte aber das Gefühl auf einem Regelbrett zu sitzen.
Latu und Leowulf beteten für meine Gesundheit, ich sah offensichtlich mindestens so schlimm aus wie ich mich fühlte, und meine Wunden verschlossen sich leicht. Immerhin konnte ich jetzt wieder aufstehen und laufen. Dachte ich zumindest, aber die Tatsache, dass ich zwei verschiedene Ebenen als Boden sah, führte doch dazu, dass ich mir von Latu helfen lassen musste um den Weg zur Kutsche einigermaßen elegant zurückzulegen.
Wir fuhren weiter. Latu hatte, während ich bewusstlos war, versucht den Goblin zu fangen oder zu töten, aber er war ihm entkommen. Und wir hatten alle keine Lust mehr weiter nach ihm zu suchen und beschlossen weiter in Richtung Blautann zu reisen.
Der Rest der Fahrt verlief ungestört und als die Praiosscheibe langsam hinter den schneebedeckten Hügeln verschwand und überlegten ob wir draußen nächtigen mussten, als ein weiteres Dorf in Sicht kam. Vermutlich jenes, von dem wir schon gehört hatten und in dem die Soldatin verschwunden war. Aber letztlich erfuhren wir nicht wirklich etwas Neues. Die Soldatin hatte man vor über zwei Wochen zuletzt gesehen und Spuren konnten wir so sowieso nicht mehr finden. Auch war sonst absolut nichts zu finden in diesem Dorf, das meiner Aufmerksamkeit würdig gewesen wäre. Meine zweite Sicht war verschwunden. Jemand hatte es entweder bemerkt oder es hatte einfach so aufgehört.
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