Kleine Ängste

Alptraum Edition

Nachdem vor mittlerweile 10 Jahren das Rollenspiel „Little Fears“ mit seiner interessanten Perspektive, Kinder als Protagonisten zu spielen, den Markt erobert hatte, liegt nun mit der „Nightmare Edition“ die erste Ãœberarbeitung des Regelwerkes vor. Feder & Schwert konnte auch diesmal wieder die Lizenz für eine deutschsprachige Ãœbersetzung erringen und veröffentlichte im September 2011 die mir hier vorliegende „Kleine Ängste – Alptraum Edition“. Wie viel Inhalt nun tatsächlich in dem kleinen Buch steckt, soll im Folgenden geklärt werden.

Erscheinungsbild:

Denn um ein kleines Buch handelt es sich hier tatsächlich – passend zum Inhalt, könnte man jetzt annehmen. Gerade einmal 15 auf 22 Zentimeter misst es und ist damit noch einmal vom Format her deutlich kleiner als die Vorgängerversion. Aber auch wenn das Buch damit im Rollenspielregal eher auffällt, mit seinen 220 Seiten braucht es sich nicht verstecken. Alles in allem ist hier etwa genau so viel Inhalt enthalten, wie im Vorgänger, durch die kleineren Seiten entsteht so aber – meiner Meinung nach – ein angenehmeres Verhältnis von Format zu Buchdicke als beim Vorgänger, der schon sehr schmal daher kam.
Das Cover ist eine groteske Collage aus einem grimmig gebleckten menschlichem Gebiss (auch wenn das schwarze Zahnfleisch sehr dämonisch anmutet), das in einem Durchbruch hinter einer düsteren Wand sichtbar ist. Auf die Wand sind mit weißer Kinderschrift Strichmännchen gemalt und ein purpurner Schmetterling klebt wie eine Träne aus Blut neben dem Wanddurchbruch. Alles in Allem also ein durchaus der düsteren Thematik angepasstes Erscheinungsbild.
Dieser meiner Meinung nach positive Eindruck setzt sich im Inneren fort. Zwar offenbart der direkte Vergleich der beiden Editionen von Kleine Ängste, dass durchaus einige Innenillustrationen aus dem Vorgänger übernommen wurden, IMHO handelt es sich dabei aber durch die Bank weg um gut gelungene. Auch hier wurde sehr gute Arbeit geleistet, passen die Bilder doch immer sehr gut zum Inhalt und unterstützen diesen sehr gut.

Inhalt:

Wie schon der Vorgänger weist auch die Alptraum Edition ein ausführliches Inhaltsverzeichnis auf. Dieses finde ich persönlich so gut und klar strukturiert, dass das Fehlen eines ausgearbeiteten Index nicht negativ ins Gewicht fällt: Anhand des Verzeichnisses ist schnell jede Textstelle gefunden, um etwaige Wissenslücken zu füllen oder Regelfragen zu klären.
Das Buch selbst teilt sich in ein Einleitungskapitel und 6 Inhaltskapitel auf.
Einleitung: Wachträume entführt den Leser in die Welt von „Kleine Ängste“. Dabei wird ausführlich auf die Stimmung, das Thema und die Grundzüge des Rollenspiels an sich eingegangen. Die Ausführungen zu letzterem können von geübten Rollenspielern zwar problemlos überblättert werden, sind aber netterweise sehr schlank gehalten, so dass auch erfahrenere Leser sich nicht allzu sehr belästigt fühlen.
Im anschließenden Kapitel Eins: Ist doch nur ein Spiel… wird gleich ohne Umschweife das verwendete Regelwerk vorgestellt. Insgesamt finde ich es persönlich sehr angenehm, wenn zuerst der „Regelsermon“ geklärt, bevor tiefer in die Beschreibung der Welt abgetaucht wird. Viele Rollenspielwerke geben zuerst eine Zusammenfassung der Welt, driften dann irgendwann in die Charaktererschaffung und die Regeln ab und greifen dann die Beschreibung der Welt wieder auf. „Kleine Ängste“ geht hier einen sehr konsequenten, schlanken Weg. Dies würde es als Regelwerk (meiner Meinung nach) relativ einsteigerfreundlich machen – auch wenn ich zugeben muss, dass der rollenspielerische Anspruch des Buches alles andere als einsteigerfreundlich ist – dazu jedoch noch einmal später.
„Kleine Ängster – Alptraum Edition“ bedient sich im Gegensatz zu seinem Vorgänger eines W6 Poolsystems mit explodierenden Würfeln. Der Würfelpool besteht dabei aus der Anzahl an Würfeln, die der Charakter in dem für den benötigten Wurf betroffenen Attribut hat. Die Attribute sind:

– Hände und Füße
– Muskeln
– Köpfchen
– Mund
– Geist

Zusätzlich wird der Würfelpool um bestimmte Eigenschaften erweitert. Hat ein Charakter zum Beispiel die Aufgabe, einen Boxsack zu treffen vor sich und den Vorteil „ich schlage zu wie Klitschko +3“ sowie das Attribut Muskeln 3, hat er einen Würfelpool von 6 Würfeln.
Der Erzähler legt einen Zielwert fest, den der Spieler mit seinem Würfelwurf übertreffen muss, beispielsweise für eine faire Schwierigkeit einen Zielwert von 9. Die drei höchsten Würfelergebnisse des Wurfes werden addiert und müssen insgesamt über dem Zielwert liegen, um einen Erfolg zu garantieren. Allerdings wird hier von ‚explodierenden 6ern‘ ausgegangen, sprich: Jede 6 die gewürfelt wird, darf noch einmal gewürfelt werden und wird zum ursprünglichen Wurf dazu addiert – auch mehrfach.
Unterschieden wird bei Kleine Ängste nach drei verschiedenen Wurfarten.

Die erste – das Quiz – ist eine einfache Eigenschaftsprobe, ob eine Handlung eines Charakters gelingt oder nicht.
Hat beispielsweise der Spieler des Charakters – wir nennen den Charakter mal Paul – beim Wurf eine 3, 1, 4, 6, 5 und 6 gewürfel, so darf er die beiden 6er nachwürfeln. Kommen dabei eine 2 und eine 6 heraus, darf er auch die zweite 6 nachwürfeln. Wenn wir annehmen, dass der dritte Wurf eine 1 ergibt, ist die Erfolgssumme die Summe der drei höchsten Würfelergebnisse, also 5 + (6+2) + (6+6+1) = 26. Der Spieler hat die erforderliche 9 also bravourös übertroffen. Je weiter man übrigens über dem geforderten Ergebniswert liegt, um so glanzvoller ist die Probe gelungen: Je drei Punkte über dem Ergebnis erreicht man einen sogenannten ‚Erfolgsgrad‘, der das Ergebnis zusätzlich verstärkt.

Nun nehmen wir einmal an, dass Paul sich statt mit einem Boxsack mit einem fiesen kleinen Jungen aus der Nachbarschaft prügeln will, der ihn auf dem Spielplatz immer drangsaliert. Um kein neues Beispiel aufzumachen nehmen wir weiter an, er hätte den selben Würfelwurf noch einmal getätigt (kommt mir jetzt bitte nicht mit Wahrscheinlichkeit…). Der fiese Antagonist hat ebenfalls einen Würfelpool von 6 Würfeln und würfelt eine 1, 3, 3, 4, 4, 6, die 6 würfelt er noch mal und erzielt eine 2, er hat also ein Wurfergebnis von 4 + 4 + (6 + 2) = 16. Paul liegt damit 10 Punkte über dem Ergebnis seines Gegners. Für je 3 Punkte erhält er dabei einen zusätzlichen Erfolgsgrad. Der Gegner erleidet also einen Schadenspunkt plus die drei Erfolgsgrade, also insgesamt 4 Punkte. Hätte Paul mit einer anderen Waffe zugeschlagen oder gar eine Schusswaffe verwendet, wären zu den 3 Erfolgsgraden andere Modifikatoren hinzuaddiert worden (beispielsweise der niedrigste gewürfelte Würfel oder bei Schusswaffen der höchste Würfel verdoppelt).
Diesen Würfelwurf nennt man dann übrigens einen Test, vergleichbar mit einer „Handlung gegen Widerstand“ in anderen Systemen.

Erweiterte Handlungen werden mit Klausuren gelöst, also wiederholten Würfen, die über Zeit Erfolge sammeln.

Klingt also insgesamt recht einfach? Ist es auch. Das System ist schlank und macht Spaß. Das gibt bei mir sofort Sympathiepunkte. Mit diesen wenigen Spielmechaniken kann so gut wie jede Tätigkeit einfach, mit wenigen Würfen und halbwegs übersichtlich beschrieben werden. Hat man sich einmal an die Regelmechaniken gewöhnt, geht das System sehr flott und angenehm von der Hand und Kämpfe können relativ schnell abgehandelt werden.
Zusätzlich zu ihren körperlichen und geistigen Attributen verfügen Kinder in „Kleine Ängste“ aber noch über eine Eigenschaft, die sie von den Erwachsenen unterscheidet: [i]Glaube[/i]. Glaube ist buchstäblich die Macht, die Berge versetzt. Glaube ist unlogisch. Glaube ist mächtig. Glaube ist Magie. Regeltechnisch bedeutet das, dass man damit seinem eigenen oder einem anderen Charakter zusätzliche Würfel für den Würfelpool hinzugeben kann. Je nach Ausgang kann das übrigens zusätzliche Auswirkungen haben: Hatte die betroffene Handlung Erfolg, so erhält man den eingesetzten Glaubenspunkt zurück (oder bei besonders viel Erfolg sogar zusätzliche Glaubenspunkte), bei Misserfolg kann man wiederum Glaubenspunkte verlieren.

Die Spielmechanik durch einen Punktepool Würfe zu beeinflussen ist nicht besonders neu, sie erinnert unter anderem ein wenig an die „Perversity Points“ von Paranoia. In Zusammenhang mit bzw. in Bezug auf einen kindlichen Glauben jedoch macht sie das System noch ein kleines wenig einzigartiger und gibt ihm ein nettes Flair!
Ein Spielercharakter hat aber neben seinem Glauben noch zwei weitere Eigenschaften:
Mut und Seele.
Mut ist relativ simpel erklärt: Je höher der Wert, um so tapferer kann der kleine Recke weltlichen und monströsen Gefahren trotzen. Sinkt der Wert zu stark, so wird aus dem tapfersten Racker ein verängstigtes kleines Kind.
Seele repräsentiert das Widerstandspotential eines Kindes gegen magische Attacken. Verliert ein Kind zu viel seiner Seele, kann es (Meister Yoda und Darth Vader lassen grüßen) auf die dunkle Seite rutschen. Kinder mit niedrigen Werten in Seele werden depressiv, lustlos, aggressiv, bösartig…

Durch diese beiden zusätzlichen Regelmechanismen wird es möglich, sehr vielfältige Charaktere und auch deutliche Charakterwandel darzustellen. Beide Werte (Mut und Seele) sind übrigens reversibel: Durch fürsorgliches Kümmern umeinander können verlorene Punkte regeneriert werden.
Alles in allem also IMHO ein gelungenes Regelsystem.

Kapitel 2: Wieder klein sein widmet sich ganz der Charakter-Er- und –Darstellung. So wird passenderweise zuerst darauf eingegangen, was alles dazu gehört, ein Kind zu spielen. Kinder denken anders, sehen die Welt anders, haben einen ganz anderen Blickwinkel und handeln daher ganz anders. Darin besteht aber bei „Kleine Ängste“ nicht nur der Reiz, sondern auch die Herausforderung. Es ist also durchaus angebracht, diesen Aspekt näher auszuführen.
Im Anschluss sind die Regeln zur Charaktererschaffung aufgeführt sowie die Liste der Vor- und Nachteile. Alles in Allem geht die Charaktererschaffung sehr flott und problemlos von der Hand. Durch die relativ langen Listen an Vor- und Nachteilen sind sehr differenzierte Charaktere möglich, so dass es keine „kleine Gruppe an Standard-Charakteren“ gibt, sondern eine weite Vielfalt.

Kapitel 3: Schutzengel ist primär auf den Erzähler ausgerichtet. So wird hier die Erstellung der Spielercharaktere als Gruppe, das Konzipieren einer Chronik sowie der Einstieg in eine Geschichte abgehandelt. Angenehm finde ich hier vor allem, dass auch auf eine stimmige Zusammenstellung der Charaktergruppe eingegangen wird. Außerdem werden Regelmechanische Details wie die Wahl der richtigen Zielzahlen für Würfe (Quiz, Test und Klausur) sowie ein Ãœberblick über stimmige NSCs und „kindgerechten“ Horror gegeben. Abgerundet wird das Ganze mit einigen Ratschlägen für den Erzähler.

In den beiden folgenden Kapiteln wird die Welt von „Kleine Ängste“ beschrieben. Kapitel 4: Die große weite Welt widmet sich dabei den Problemen, denen sich die Kinder-Charaktere in der realen Welt gegenüber sehen: In der Schule, im Alltag, den Eltern, anderen Kindern aber auch „guten“ und „bösen“ übernatürlichen Wesenheiten. Außerdem werden auch ‚Schätze‘ angesprochen, die den Kindern helfen ihre Aufgaben zu erfüllen.

Kapitel 5: Das Land unter dem Bett hingegen geht näher auf die unnatürliche, ja übernatürliche Parallel-Welt ein, die nur Kinder in der Lage sind wahrzunehmen. Eben „das Land unter dem Bett“. Aus dem Englischen übrigens sehr passend übersetzt. Dort war noch vom ‚closet-land‘ die Sprache, dem Land im Wandschrank. Denn dort sind im US-amerikanischen Kulturraum nach Kindermärchen die Monster beheimatet. Nun, wie man diesen Ort auch nennt, er ist die Wiege der Monster, die Kinder in ihren Alpträumen verfolgen. Doch leider nicht nur dort. Denn die Grenzen zwischen den Welten sind fließend. Immer wieder tun sich Risse in der Realität auf, durch die Monster in unsere Welt gelangen können… und nur kleine, tapfere Helden können sie dort stoppen. Doch diese Risse in der Realität sind keine Einbahnstraßen: Auch Kinder können auf ihren gefährlichen Reisen in das Land unter dem Bett gelangen und dort unsäglichen Schrecken entgegentreten.
Dieses Kapitel ist meiner Meinung nach sehr gut gelungen. Gibt es doch dem Erzähler nicht nur einen guten Überblick über die Welt, die die Macher von „Kleine Ängste“ geschaffen haben, sondern lässt ihm auch noch genügend Spielraum, um seine eigenen Ideen einzubringen und seine eigene Fantasie spielen zu lassen. Abgerundet wird es jedenfalls durch eine Sammlung an Beispielmonstern, an denen man sich als Spielleiter einer Sitzung sehr gut orientieren kann, um auch selbst Antagonisten zu erschaffen.

Im letzten Teil des Buches, Kapitel 6: Gruselgeschichten werden dem Spielleiter ein paar Setting-Spezifische Tips zur Hand gegeben: Von den „Klassikern“ der Abenteuertypen, die seine Spieler mit ihren Charaktere erleben können, über eine ganze Reihe an Beispiel-Spielercharakteren bis hin zu einem recht ausführlich skizziertem Beispiel-Szenario, so dass einem zügigen Spielbeginn nach Lektüre dieser Seiten nichts im Wege steht.

Fazit:
Wahrscheinlich ist es unnötig zu erwähnen, dass „Kleine Ängste: Alptraum Edition“ kein wirkliches Einsteigerrollenspiel ist. Ich persönlich begrüße zwar die Versuche der Redaktion, das Buch so einsteigerfreundlich wie möglich zu gestalten, meiner bescheidenen Meinung nach ist die Thematik, Kinder darzustellen aber eine eher fortgeschrittene rollenspielerische Herausforderung. Vielleicht lege ich aber auch nur die Messlatte dafür sehr hoch oder habe höhere Erwartungen, als Andere. Nichts desto trotz halte ich „Kleine Ängste: Alptraum Edition“ für sehr gelungen.

Zugegeben: Das Setting ist nicht einzigartig. Man könnte sicherlich auch mit anderen Systemen (allen voran zum Beispiel dem der nWoD) ein sehr sehr ähnliches Setting mit sehr sehr ähnlichem Feeling schaffen. Nichts desto trotz behält „Kleine Ängste“ seinen ganz eigenen Charme. Zwar kommt gerade durch die Einführung des neuen Pool-Systems eine kleine Ähnlichkeit zum White-Wolf-System auf, die Eigenheiten der Spielmechanik (Glaubenspunkte, Mut und Seele) lassen es aber immer noch selbständig wirken. Der zuvor genannte Charme bleibt. Das System schafft es nicht nur, mich mechanisch zu überzeugen, beim Durchlesen des Regelwerkes konnte ich gut nachvollziehen, wie beim Spielen eine geradezu [i]kindliche[/i] Atmosphäre aufkommt – gespickt mit Horror, jugendlichem Tatendrang und einer Prise übernatürlicher Bedrohung.

Das einzige, was nicht so ganz zu dieser Atmosphäre gepasst hat, ist die inkonsequente Verwendung von „du“ und „Sie“ in der Anrede des Lesers im Buch. Mir ist klar, dass die englische Vorlage dieses Problem mit dem mengenunspezifischen „you“ nicht hat. Nichts desto trotz hätte ich mir gewünscht, dass das Buch – obwohl es für Erwachsene geschrieben ist – den Leser aus dem Kontext heraus als Kind anspricht. Gesiezt zu werden bricht hier IMHO nur den Zauber, den das Buch versucht aufzubauen.

Das Setting an sich mag nicht für jedermann geeignet sein – nicht jeder stellt gerne Kinder als Protagonisten dar – diesen Anspruch hat aber „Kleine Ängste“ auch nicht: Es ist ein liebevoll ausgearbeitetes, mit einer relativ schlanken Mechanik versehenes und stimmungsvolles Nischen-Liebhaberrollenspiel.

Leider spiegelt sich dies auch preislich wieder: für die knapp 35€, die man für das kleine Schmuckstück zahlt, bekommt man wo anders deutlich umfangreichere Bücher. Das ist tatsächlich der einzige große Kritikpunkt, den ich an der Alptraum Edition habe (auch wenn der Vorgänger bereits in der selben Preiskategorie spielte). Aber irgendwie wollen die Lizenzgebühren und Übersetzungskosten ja auch bezahlt werden. Wer also gerade das Geld im Budget frei hat, sollte sich dieses Kleinod nicht entgehen lassen!

Also nichts desto trotz: 4,5 von 5 Punkte von mir für dieses kleine Rollenspieljuwel!

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