Die Meere des Schreckens

Die Legenden von Harkuna Band 3

Die Legenden von Harkuna sind zweifelsohne ein beeindruckender Versuch. Mitte der 90er Jahre (1995/1996), also bereits bevor Computer den Spielalltag von Solospielern bestimmen konnten, hat diese Spielbuchreihe den Versuch gewagt eine Art Open World für Einzelspieler zu schaffen. Das Ergebnis ist ein fast übermütiges Spielbuchprojekt das 16 Bände mit etwa 12.000 Abschnitten hervorgebracht hat, die es bisher nie zur vollen Veröffentlichung gebracht haben aber nun etwa halbjährlich auf Deutsch erscheinen.

Spielmechanik

Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Legenden von Harkuna nicht stark von anderen Spielbüchern. Wir stranden fast Klischeehaft irgendwo in einer unbekannten Welt und bewegen uns je nach Entscheidung von Abschnitt zu Abschnitt wobei wir vor Proben, Entscheidungen und Rätsel gestellt werden.

Ein erster Unterschied liegt aber bereits darin wer wir sind. Anstatt einen bestimmten Charakter zu spielen den wir nur anders spezialisieren können wir uns bei der Charaktererstellung zwischen 6 verschiedenen Charakterklassen bzw. Berufen entscheiden. Diese definieren unsere sechs Startwerte unmittelbar und ermöglichen so eine enorm schnelle Charaktererschaffung, die durch die Wahl eines der vorgefertigten Charaktere auf dem je nach Buch passenden Level, sogar noch einmal beschleunigt werden kann. Obwohl wir durch die fixen Werte nicht wirklich flexibel bei der Charaktererschaffung sind gibt uns die Klassenauswahl schnell das Gefühl von einem „großen“ Rollenspiel in dem wir verschiedene Charaktere und Wege gehen können. Und in der Tat – im Gegensatz zu anderen Reihen ist der Weg unseres Charakters nicht vorbestimmt und wir können wirklich verschiedene Charaktertypen umsetzen.

Ähnlich nah am Tischrollenspiel ist auch das Würfelsystem. Unsere Proben laufen mit 2W6 ab zu dem unser Fertigkeitswert addiert wird und der mit einer Schwierigkeit verglichen wird. Das ist nicht gerade innovativ aber funktional, zumal so ganz einfach Boni oder Mali je nach Klasse, Gegenstand oder Entscheidung eingerechnet werden können. Eine Zufallszahlentabelle oder ein Würfelmechanismus durch Blättern fehlt leider, aber die Legenden sind durch den teilweise hohen verwaltungsaufwand eh als Tischspielbuch konzipiert (und daher auch ursprünglich in Großformat verlegt worden).

Die Kämpfe laufen ebenfalls nach diesem Muster ab. Wir und unser Gegner verfügen über einen Angriffs- und (höheren) Verteidigungswert und Proben abwechselnd gegen den Verteidigungswert des Gegners als Schwierigkeit. Die Differenz ergibt den direkten Schadensverlust, wodurch der Kampf nah am Probensystem ist und schnell verinnerlicht wird. Leider fallen dabei interessantere Kampfoptionen etwas unter den Tisch. Zwar gibt es manchmal die Möglichkeit zu Sonderaktionen oder zum Fliehen, stumpfes Würfeln bis zum Tod einer Partei dominiert aber deutlich.

Eine Reise mit Hindernissen

Interessanter ist da schon die Struktur des Buches bei der für die Zeit deutlich innovativere Mechaniken anwendung finden. Um viele Freiheiten zu gewähren bilden die Abschnitte im wesentlichen ein Netz an Orten die beliebig abgelaufen werden können. Im Gegensatz zu gradlinigeren Abenteuern kann man daher jeden Abschnitt logischerweise mehrmals besuchen und folgt keinem klaren Progress.

Um diesen Weg spannend zu halten begegnen uns dabei immer wieder kleinere Abenteueroptionen. Monster, um hilfe suchende Personen, kleine Dörfer, Häuser am rande etc. sorgen für Abwechslung. Da diese jedoch nicht bei jedem durchqueren eines Ortes auftauchen dürfen, müssen viele Abschnitte angekreuzt werden um zu vermerken ob der Held den Abschnitt bereits besucht hat. Dies führt zwar zu etwas Verwaltungs- und Blätteraufwand, vermeidet aber die meisten Schleifen und umgeht immer wiederkehrende Abenteuer.

Eine zweite Option die im vorliegenden Band gerade auf See eingesetzt wird sind Zufallstabellen. Mit ein oder zwei W6 die ggf. modifiziert werden, wird ein Zufallsereignis ausgelöst das zu den betreffenden Abschnitten verweist. Dadurch wird die Reise individueller, aber leider auch weniger planbar. Letzteres gerade deshalb, da schlechte Ereignisse schnell zu starken Einschränkungen (Verlust des Bootes, aller Ausrüstung ect.) führen können oder den Spieler gar an einen anderen Ort bringen (Versklavung, falsche Navigation etc.).

Da eine solche Reise zwar schon Potential in sich trägt aber doch sehr beliebig wäre, wird zusätzlich eine Codewortmechanik eingesetzt. In jedem Band können um die 30 Codewörter erlangt werden die praktischerweise je Band einen einheitlichen Anfangsbuchstaben tragen. Band 1 nutzt A, Band 2 nutzt B und vorliegender dritter Band geht von Calamares bis Curry. Diese Wörter werden im Spiel erworben und an passenden Stellen abgefragt und nach Absolvierung meist gestrichen. Besitzt man ein Codewort wird also ein anderer Abschnitt geöffnet als ohne. Hierzu muss man zwar ehrlich sein, aber die Abstrakte Codewortwahl vermeidet immerhin unpassende Hinweise. Das Ergebnis ist, dass sich das Buch an vorhergehende Entscheidungen oder Ereignisse erinnern kann und so Aufträge unlinear verbindet. So können wir beispielsweise an einem Ort eine Vision erlangen und diese realisiert sich an dem Prophezeiten Ort anders wenn wir die Vision vorher hatten, also über das passende Codewort verfügen. Diese Mechanik wird dabei erstaunlich umfassend eingesetzt. Die einzelnen Bände fragen immer wieder Codewörter anderer Bücher ab, was zu einer gelungenen Verzahnung über mehrere Bücher hinweg führt. Überhaupt greifen die Bände an vielen Stellen ineinander so das man nicht nur an der Grenze des jeweiligen Gebiets in ein anderes Buch gebracht werden kann, sondern auch als folge mancher Abenteuer oder Ereignisse. Gleichzeitig führt das leider dazu das man mehrere Bände fast zwingend besitzen sollte und man manchmal ohne zurückblättern nicht weiterkommt oder bestimmte Optionen verschlossen bleiben bis das passende Buch erworben bzw. veröffentlicht wurde. Dies gilt leider auch für Szenen in denen nicht ganz so einfach zurückgeblättert werden kann…

Theorie und Praxis

Die Mechaniken um den Abenteueralltag interessant zu halten und die kluge Erinnerungsmechanik versprechen einiges. Erweitert wird das Gefühl einer freien Welt sogar noch durch zahlreiche Erwerbungen die man tätigen kann. Die zahlreichen Städte ermöglichen Märkte auf denen ein- und verkauft werden kann (natürlich mit variabler Preis- und Angebotsliste je Stadt), wir können mit Ankreuzkästchen Eigentumswohnungen erwerben und dort Gegenstände einladen, manche Proben erhöhen unsere Werte, Tempel segnen uns mit Spieleffekt gegen Geld und wir können – gerade in diesem Band – sogar eine eigene Flotte mit Schiffsbesatzung und Großhandelssystem erwerben. Durch solche „minigames“ können wir neben den zahlreichen kleinen Begegnungen eigene Ziele setzen und enorm dynamisch spielen. Das alles ist vielversprechend aber leider läuft das Prinzip in der Praxis schnell auf Grund…

Zum ersten bestehen viele Ereignisse darin das sie andere Kauflisten oder kleine Wertveränderungen freischalten oder bestimmte Gegenstände voraussetzen. Das führt dazu, dass das Entdecken teilweise etwas enttäuscht wird wenn sich ein interessantes Dorf auf einen Handelsplatz reduziert oder der Nutzen eines Ortes lediglich auf den Erwerb einer bestimmten Handelsressource beschränkt. Zum anderen setzt solches Management lange Lauf- und damit Blätterarbeit voraus. Dies wirkt sich auch auf die Abenteuer aus. Zwar ist es “realistisch” und liebevoll das finstere Höhlen nur mit Kerzen oder Lampen betreten werden dürfen, praktisch bedeutet es aber das wir zahlreiche Abschnitte zurück ins letzte Dorf laufen müssen und dort (so vorhanden) unsere Shards (die Währung in Harkuna) gegen Leuchtmittel umtauschen. Dies ermuntert zum Schummeln oder zumindest zu Abkürzungen (das war doch Abschnitt xy, wo es den Gegenstand gibt…) und führt schnell zu Frustration. Letzteres insbesondere, da die etwas grobe Wegführung häufig dazu führt, dass wir uns ohne genaues Erinnerungsvermögen verlaufen. Auch die Zufallsbegegnungen tun dabei ihr übriges indem sie uns wie beschrieben gerne in die irre führen. Letzteres wird leider vom Buch stark begünstigt indem Teleportation, Entführungen und fehlgeleitete Schiffe scheinbar zum Alltag gehören. Dies ist insbesondere deshalb ärgerlich als Reisen eben einen großen Teil unserer Abenteuer ausmachen und die eigentlichen Abenteuerabschnitte oft knapp ausfallen. Auf der positiven Seite erkunden wir somit sher viel, auf der negativen haben wir seltend as Gefühl unsere Geschicke wirklich lenken zu können.

Die meisten Abenteuer- oder Entscheidungssequenzen strecken sich abseits der Laufwege leider über wenige Abschnitte und führen verhältnismäßig unvermittelt zu starken Konsequenzen. Es reicht leider manchmal eine schlechte Zahl auf einer Zufallstabelle, eine falsche Antwort oder eine verpatzte Probe um durch die Bücher geworfen zu werden, seine Ausrüstung oder Hütte zu verlieren oder als Strafe per Teleportation am anderen Ende der Welt zu landen. Und auch plötzliche Tode dürfen natürlich nicht fehlen, die uns trotz Wiederbelebungsverträgen einiges an Zeit und Nerven rauben können.

Die Welt

Die Spielwelt von Harkuna ist eine abwechslungsreiche High-Fantasy Welt. Etwas sprunghaft liegen stark unterschiedliche Regionaltypen nebeneinander, die gerne von mystischen Kreaturen oder phantasievollen Völkern bewohnt werden, was bei dem Inselszenario des Buches jedoch zu verkraften ist. Götter und Religion haben ebenso wie Magie einen starken Einfluss und an fast jeder Ecke kann ein Kampf oder Abenteuer warten. Dies sind eigentlich optimale Voraussetzungen für eine abenteuerliche Reise, leider leidet dadurch die Glaubwürdigkeit der Welt. Das ist gerade auf Grund der (theoretischen) Möglichkeit langfristig alle 16 Bände zu bereisen und Gegenstände oder Großinvestitionen anzuhäufen etwas schade. Zu schnell verliert man seinen Besitz, verlässt seinen Weg oder verstirbt schlicht und ergreifend. Hinzu kommt das einige Abschnitte leicht humoristisch aufgeladen sind, was zwar zu einem Lachen führen kann aber mit ernsthaften Konsequenzen verbunden sein kann, die einem das Gefühl egben können nachgerade reingelegt worden zu sein. Teilweise handeln Charaktere bewusst entgegen Erwartungen und manche Situationen interpretieren Probenergebnisse auf kreative Weise falsch herum.

Auch die bereits angesprochene Schnelligkeit von Entscheidungen tut der Tiefe der Welt etwas an Abbruch. Zwar können wir wirklich zahlreiche Abenteuer(chen) erleben und haben hier auch oft verschiedene Optionen, dafür sind diese aber gerne schnell vorüber. So können wir beispielsweise eine von einem Vulkanausbruch bedrohte Insel besuchen und die (leider sehr klischeehaft gezeichneten) Bewohner auf verschiedene Weisen retten oder ihrem Schicksal überlassen, das Großereignis ist aber nach wenigen Abschnitten abgeschlossen und zeitigt noch nicht einmal größere Konsequenzen.

Dadurch fehlt es dem Spiel an Tiefe und Bindung. Wir haben mit kaum einem Charakter oder Ort wirklich lange genug zu tun um eine Bindung aufzubauen und die handfesten Änderungen beziehen sich leider meist auf Segnungen, Einkäufe oder Besitztümer. So können wir zwar in größeren Städten aus etwa bis zu 10 Optionen auswählen, nur wenige davon führen jedoch zu einer spannenden Interaktion. Stattdessen finden wir oft verschiedene Tempel mit den meist gleichen Optionen, einen Markt mit Einkaufsliste, manchmal ein erwerbbares Haus und andere meist auf Wertveränderungen herauslaufenden Orte vor.

Fazit

Die „Meere des Schreckens“ enthalten insgesamt betrachtet ähnliche Stärken und Schwächen wie die Vorgänger. Die Welt kann lange und abwechslungsreich besucht werden und bietet Optionen wie kein anderes Spielbuch. Auch nach mehreren Stunden Spiel hat man nichtd as Gefühl alles gesehen zu haben und die selbstgesetzten Ziele oder auf andere Bücher bezogenen Quests sind damit nicht einmal mit einbezogen. Dafür verliert man leider oft den Überblick, muss mit manchmal ungerechten Konsequenzen leben (oder schummeln) und kann schnell merken wie beschränkt die meisten Orte und Abenteuer im Endeffekt doch sind.

Die Erinnerungsmechanik über Codewörter und Kästchen ist sinnvoll aber führt zu einigen reinen Umleitungsabschnitten und lässt das Spiel in Kombination mit vielen Laufwegen an Blätterarbeit grenzen. Dabei wurden leider nicht einmal alle Schleifen und unlogischen Wiederholungen vermieden. So kann man beispielsweise unendlich oft auf die gleichen drei Räuber stoßen die einen beim Erkunden einer Stadt überfallen oder sich mit etwas Geduld und Würfelglück immer wieder im gleichen Wald verlaufen um sein Naturwissen zu steigern.

Durch solche Macken merkt man dem Spiel trotz einiger bis heute innovativer Ideen sein Alter deutlich an. In Kombination mit der etwas überzeichneten Spielwelt und den Oldschoolzeichnungen kann es aber gerade deshalb für Retrofans ein wahrer Traum sein.

Wer sich einfach für gut gemachte Spielbücher interessiert darf aber auch ohne Oldschoolfaible einen Blick wagen. Das Buch bzw. die Reihe enthält zahlreiche gute Ideen, die zwar immer wieder an ihre Grenzen stoßen und meines Erachtens etwas an der gewöhnungsbedürftigen Sprunghaftigkeit der Welt leiden, manchmal wachsen sie aber doch über sich hinaus.

Mit etwas mehr Tiefe bei den Quests und ein paar Hilfestellungen zur schnelleren Navigation oder klareren Leitquests wäre das Buch genial und könnte auch mit aktuellen Titeln wie Reiter der Schwarzen Sonnne mithalten. In der Form habe ich mich jedoch zwischen den diversen Inseln des violetten Meeres trotz schöner Aussicht zu oft verloren gefühlt um die Reise zu genießen…

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