Accelerando

Ein Roman

Im Moment gibt es eine neue Bewegung in der Science Fiction. Nachdem die letzte „große“ Bewegung der Cyberpunk war, zeichnen sich seid Anfang des 21. Jahrhunderts gleich zwei „Bewegungen ab. Zum einen haben wir eine „Welle“ starker Britischer Autoren, die dem Genre wieder neue Impulse zuführen und soziale Betrachtungen und technologische Überlegungen zusammenführen – womit sie eine Tradition wieder aufgreifen, die möglicherweise seid H.G. Wells brachliegt. Zum anderen ist aus den Trümmern und der Dekonstruktion des Cyberpunk der Postcyberpunk oder Posthumanismus entstanden, eine Literatur, die sich mit der weiteren Evolution des Menschen beschäftigt, sowohl technologisch als auch sozial und psychologisch, natürlich als auch gesteuert. Das vorliegende Buch, [I]Accelerando[/I] von Charles Stross, gehört zu beiden Bewegungen.

Der Roman ist episodenhaft aufgebaut, und beginnt im frühen 21. Jahrhundert. Die Hauptfigur, Manfred Macx, ist ein Menschenfreund und ein Erfinder der etwas seltsameren Art: Er besitzt nichts, und bezieht keinen finanziellen Gewinn aus seinen Erfindungen. Jede neue Idee, die er hat, jede Erfindung die er sich ausdenkt wird im Namen einer Creative Commons Gesellschaft patentiert – dafür hält die Welt ihn am Leben: seine Flugtickets bezahlt das Flugunternehmen, weil eines seiner Verfahren ihr Computersystem revolutioniert hat, die sozialistische Regierung in Rom finanziert seine Wohnung, weil ihr neues Steuersystem auf einer seiner Algorithmen basiert. Eben dieser Macx wird zu beginn der Handlung in Amsterdam angerufen, von den Hirnsimulationen von Hummern, die vom ehemaligen KGB zur Steuerung eines militärischen Computers verwendet wurden, und die jetzt flüchten müssen. Zudem soll Macx für jemanden ein günstiges System entwickeln, um Asteroiden abzubauen – und in all dem Chaos taucht auch noch seine Exfreundin, Ex-domina und später Exfrau Pamela auf, die versucht ihn dazu zu bewegen, in die USA zurückzukehren, die total verschuldet sind, und steuerflüchtige mit aller Härte verfolgen. Und das ist Pamelas job – sie ist Steuerfahnderin, und ihrer Einschätzung nach müsste Macx Geld wie Heu haben. Es gelingt Macx, die Probleme der Hummer und der Raumfahrt zu lösen, aber das Problem Pamela führt dazu, das er wenige Jahre später auf der Flucht vor einer Welle von Scheidungsklagen ist, wodurch er gezwungen ist, in Paris unterzutauchen, zusammen mit seiner künstlichen Katze, Aineko. Dort beginnt ein Konflikt mit Pamela, der sich durch das ganze Buch und die Evolution des Sonnensystems ziehen wird, während sich um sie herum die Erde ein immer fremder Ort wird.
Der zweite Teil des Buches handelt von Amber, der Tochter Manfreds und Pamelas, die sich mit Hilfe Manfreds und seiner Freundin Anette vor ihrer Mutter in den Jupiterumlauf geflohen ist, und dort einen Orbitalstaat gründet. Als es kurze Zeit später gelingt, Signale zu entschlüsseln, die Jahre vorher empfangen wurden, schickt Amber Uploads von sich und ihren engsten Freunden mit Hilfe eines winzigen Satelliten zu einem „Kosmischen Router“, um Kontakt mit dem Außerirdischen herzustellen – nur um zu erkennen das die Zivilisation am Zielort längst untergegangen ist in einer posthumanen Singularität, einer so rasanten Informationsentwicklung, das sie unnachvollziehbar wird. Amber und ihren Freunden gelingt nur mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz (Ehemals Katze) Aineko die Flucht. Was sie allerdings nicht wissen können ist, dass in der Zeit, in der sie Unterwegs waren ihre Heimat untergegangen ist, und die Entwicklung auf der Erde denselben weg gegangen ist, wie an ihrem Zielort…
Im dritten und letzten Teil des Romans verlagert sich die Handlung in die Umgebung des Saturns, wohin sich die letzten gerettet haben, die man noch als „Menschen“ erkennen würde – das innere Sonnensystem hat sich längst in eine Wolke intelligenter Materie verwandelt. Amber und ihre Mannschaft sind zurückgekehrt, und auch Manfred, Pamela und Anette sind wieder aufgetaucht, nur leider sind Ambers Warnungen zu spät, die Singularität hat das Sonnensystem bereits erfasst, und nun geht es nur noch darum, wie man die Menschheit davor retten kann, endgültig ausgelöscht zu werden von den AIs, den Uploads und den noch fremdartigeren virtuellen Lebensformen des inneren Sonnensystems…

Stross zeichnet mit diesem Episodenroman ein überwältigendes Bild eines Sonnensystems und einer Menschheit, deren Entwicklung außer Kontrolle geraten ist, vorangetrieben durch eine ungebremste technologische Entwicklung, die der einzelne kaum noch verstehen kann. Ähnlich wie Sterlings [I]Schismatrix[/I] umspannt [I]Accelerando[/I] nur ein einziges Jahrhundert, und die Geschicke einer einzelnen Familie, doch die Welt die er zeichnet entwickelt sich so schnelle das man das Gefühl hat, zwischen den Teilen Jahrhunderte zu überspringen. Dennoch bleibt die Handlung und auch die beschriebene Evolution glaubwürdig, eine Glaubwürdigkeit, die durch die im Text eingestreuten Passagen, bei denen der Autor dem Leser einen Ausblick auf die Gesamtsituation und der Evolutionsgeschwindigkeit gewährt, erhalten bleibt. Einziges Manko am Text sind die vielen, für den Laien unverständlichen Fachbegriffe. Dem wird zwar durch einen Index am Ende teilweise abgeholfen, aber unter umständen wird der Leser ein oder zwei Mal auch die Website des Autors aufsuchen wollen, wegen dem Onlinelexikon zum Roman. Apropos Internet: für diejenigen, die mit Englisch keine Probleme haben, und nichts dagegen haben, einen Text am Bildschirm zu lesen hat der Autor den kompletten Text auf seiner Website veröffentlicht. Letztenendes empfehle ich diesen Roman jedem, der wissen will, was die Science Fiction heute außer Raumschlachten und galaktische Imperien zu bieten hat. Außerdem – das hier könnte schon morgen beginnen, und wer hätte nicht gerne schon mal einen Warnhinweis?

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