Sternenbrand: Blind

Ein Roman von Annette Juretzki

Sternenbrand von Annette Juretzki beginnt zuerst ganz unscheinbar. Auf einem etwas generisch wirkenden Planeten, der sich im weiteren Verlauf als „Vissa“ herausstellen wird, begleiten wir den etwas naiven Xenen mitsamt seiner durch Klosterkultur eingeschränkten Weltsicht. Natürlich hält diese beschränkte Perspektive nicht lange an und wird jäh unterbrochen, als eine kleine Truppe Invasoren Xenens Blick auf Welt, Götter und Universum radikal umschmeißt. Ab diesem Moment wirft uns die Autorin mit ihrem Erstlingsroman in eine abwechslungsreiche und detailverliebte Galaxis.

Ein Vissaner auf Erkundungsfahrt

Die Kernfigur bleibt in mehrerer Hinsicht Xenen, mit dem eine gute narrative Wahl getroffen wurde. Relativ ungebildet und naiv stellt er ganz natürlich die Fragen, die auch uns unwissenden Lesern in den Sinn kommen. Immer wieder gelingt es der Autorin dabei, die Bilder vor unserem inneren Auge einstürzen zu lassen und die beschränkte Sichtweise des Vissaners in „Aha“-Momenten aufzulösen. Auf den Schultern des Menschen erfahren wir so Schritt für Schritt mehr über eine uns fremde Galaxis. Der auf Xenen gerichtete Blick hat dabei sogar den Vorteil, dass uns das Charaktergeflecht des Raumschiffes Keora nicht überfordert. Auch wenn das Buch mit einer etwas erschlagenden Liste von etwa 25 Besatzungsmitgliedern inklusive exotischen Rängen einsetzt, dreht sich die Erzählung um eine Handvoll Charaktere, die sich allesamt durch detaillierte Darstellung ins Gedächtnis einprägen. Auch nach Beiseitelegen von Blind werden einem Jonas, Zeyn, Taan und natürlich Xenen noch lange im Gedächtnis bleiben…

Die größte Stärke des Buches liegt meines Erachtens in der Welterschaffung. Der Autorin ist die Erzeugung eines detaillierten und stimmigen Universums gelungen, das sich von der Einheitskost abhebt. Dabei überzeugt die Welt von Sternenbrand auf mehreren Ebenen.

Zuerst wäre da die Technologie. Science Fiction wäre eben keine Science Fiction, wenn es keinen technischen Fortschritt gäbe. Und der ist hier schnell zu bemerken. Die Charaktere verbringen den Großteil ihrer Zeit in einem Sternenschiff, das intergalaktische Reisen vornehmen kann. Auch sind komplexe Kommunikationsgeräte, Übersetzungsgeräte, Virtual Reality und eine KI-Spezies alltägliche Begleiter. Zugegeben; hier stecken keine großen Innovationen, dafür ist die vorgestellte technologische Zukunft aber vorstellbar und glaubwürdig. Besondere Pluspunkte gibt es dafür, dass die Rolle der Technologie in dem zu Grunde liegenden galaktischen Konflikt eine äußerst entscheidende und plausible Rolle einnimmt.

Das führt zum zweiten Punkt. Die Welt von Sternenbrand basiert auf einem hier nicht vorwegzunehmenden galaktischen Konflikt – eben ein Sternenbrand –, als dessen Ergebnis eine Allianz der unterschiedlichen „Alien“-Völker und ein großes Mysterium steht, welches die Geschichte vorantreibt. Die Welt wirkt dabei tief durchdacht und durch das narrative Werkzeug des unerfahrenen Xenen schrittweise erläutert.

Zuletzt und am beeindruckendsten wären da die unterschiedlichen „Alien“-Völker. Während Galaxis-Geschichte und Technologie solide, aber nicht enorm innovativ sind, brilliert Sternenbrand bei den unterschiedlichen Spezies. Die sind auf den ersten Blick wiederum keine großen Überraschungen, werden aber dafür mit äußerster Konsequenz vorgestellt. Nicht nur die physiognomischen Differenzen, sondern insbesondere die Kulturen, Sprachen und Wertvorstellungen der Spezies sind bis ins letzte Detail ausgearbeitet. Dabei nehmen der Konflikt dieser Wertvorstellungen, Xenophobie und interkulturelle Missverständnisse großen Raum ein. Hier gelingt der Autorin eine im besten Sinne positive Social Fiction, die uns immer wieder die Relativität eigener Kultur und die Möglichkeiten anderer Lebensentwürfe präsentiert. Das gilt unter anderem auch für die Sache mit der Liebe…

Die Sache mit der Liebe

Neben dem äußerst gelungenen Weltenbau hebt sich das Buch besonders durch den Umgang mit Liebe und Sexualität hervor. Wie für ein Buch im jungen Traumtänzerverlag zu erwarten, spielt dabei insbesondere homosexuelle Liebe eine entscheidende Rolle. Das ist für die oft prüde Science Fiction* erst einmal ungewöhnlich und Geschmacksache. Zum ersten wäre da der große Stellenwert der Liebesbeziehungen. Die sind neben dem großen Mythos des Sternenbrandes das treibende Motiv der Geschichte. Der Großteil der Handlung spielt auf dem Sternenkreuzer der Keora und wird durch die Augen von Xenen betrachtet, der immer auch von Liebe und sexuellem Verlangen angetrieben wird. Gerade letzteres ist dabei äußerst direkt präsent und entfernt sich weit von eben jener genretypischer Prüderie. Das Buch durchzieht längere, meist explizite Darstellung von Sexualität, die mit klarer Wortwahl und deutlicher Darstellung arbeiten. Erotik ist dabei kein Selbstzweck, kann dem einen oder anderen Leser aber sicher etwas zu viel werden. Dafür wird die Sexualität als eine weitere Facette des Weltenbaus stark. So vollführen die unterschiedlichen Aliens nicht nur unterschiedliche Sexualpraktiken, sondern weisen der Reproduktion auch einen äußerst abweichenden Stellenwert zu. Während die xenophobe Menschenkolonie Stormcoast strikt monogam und biopolitisch unterwegs ist, nehmen es Ghitaner mit Monogamie und Besiedlungswillen nicht so ernst und sprechen Eifersucht wenig Stellenwert zu. Dank einem exotischsten geschlechtsfluiden Alienvolk werden sogar bipolare Geschlechtskonzeptionen aufgebrochen, ohne zu überfordern. Es ergibt einfach Sinn, dass eine Galaxis diverser ist als Mutter-Vater-Kind.

Fazit

Juretzkis Einstiegsroman der zweibändigen Sternenbandreihe sticht heraus. Der grundsätzlich eher heiter unterhaltende als schwere Roman führt in eine Welt, die eine zwanglose Vision von unterschiedlichsten Spezies und ihrem Zusammenleben entwirft. Wer von Liebesgeschichten und etwas Erotik nicht abgestoßen ist, kann einen gefahrlosen Blick werfen. Blind stellt eine überzeugende Galaxis und ihre Spezies vor, die durch kurzweilige Szenen und eine charaktergesteuerte Erzählung präsentiert werden. Was die zentrale Frage des Weltenbrandes angeht, wird uns wohl Band zwei ab Dezember weiteres zu sagen haben…

 

*Ganz so stimmt das natürlich nicht. Auch wenn ich die Science Fiction der letzten Jahrzehnte verpasst habe, kam ja Sexualität – anders als im Fantasy Genre – durchaus seit dem Beginn in der Sci-Fi-Literatur vor. Obwohl Science Fiction ja sogar im Playboyverlag erschien, machte explizit dargestellte Sexualität meines Wissens nach doch eher die Ausnahme aus. Stattdessen stand eher die Frage gesellschaftlicher Reproduktion im trockenen Hintergrund (Handmaids Tale, kurze Passagen im Ewigen Krieg…) und es blieb auf persönlicher Ebene dann doch bei klassisch heterosexuellem und oft nur angedeutetem Sex. Insofern erwartet man als naiver Sci-Fi Leser vermutlich immer noch keine Szenen, die sich so auch in der Erotikliteratur finden ließen…

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