Kleine Ängste: Alptraum-Edition

Vor vielen Jahren brachten Feder & Schwert ein Rollenspiel heraus, das zu den bis heute kontroversesten und meistdiskutierten in der Szene gehört – die deutsche Übersetzung von Little Fears, Kleine Ängste. Dieses Spiel, in dem die Spieler typische Kinder verkörperten, thematisierte Kinderängste aber auch Kindesmissbrauch, was zu vielen Diskussionen führte, unter anderem weil viele Spielergruppen solche Themen nicht in ihren Spielen behandelt sehen wollten. Manche gingen sogar so weit zu behaupten das Kleine Ängste den Missbrauch befürwortete. Begleitet von einem Soundtrack und einem Hörbuch von der Band Janus war das Spiel recht schnell ausverkauft und erhielt keine Neuauflage. Vor ein paar Jahre hieß es dann, der Autor des Spiels, Jason L. Blair, würde an einer zweiten Edition des Spiels arbeiten, woraufhin auch F&S eine Übersetzung ankündigte. Diese neue Version des Spiels, die “Alptraum-Edition”, liegt nun vor.

Das neue Kleine Ängste ist auch wieder ein Hardcover-Band, doch wo die Vorgängerversion in einem eigenwilligem Format zwischen A5 und A4 daherkam ist die Alptraum-Edition handlicher, in einem Format das am ehesten dem einer DVD oder eines normalen Hardcover-Romans entspricht. Im Inneren ist das Buch immer noch schwarz/weiß, doch dieses Mal auf schwerem Hochglanzpapier. Viele der alten Illustrationen sind erhalten geblieben, doch finden sich hier auch neue und überarbeitete Versionen alter Bilder. Insgesamt wirken die 230 Seiten des Buchs heller als der Vorgänger, was auch zum neuen Fokus des Spiels passt.

Neben einer Einleitung teilt sich der Text von Kleine Ängste in sechs Kapiteln auf. Die Einleitung erklärt worum es in Kleine Ängste geht, und hier wird schon der veränderte Fokus des Spiels klar. Es geht zwar weiterhin um Kinderängste, aber die Charaktere sind nicht nur Opfer, sondern können auch selbst aktiv werden. Es sind immer noch Gruselgeschichten, aber es bleibt der Gruppe überlassen ob es eher märchenhafte Abenteuer im Sinne von Grimms Märchen, oder dreckige, realistische und kranke Schocker werden. Im ersten Kapitel werden gleich als erstes die neuen Spielmechanismen beschrieben. Bei einer Probe wird ein Attribut ausgewählt, eine dazu oder zur Situation passenden Eigenschaft, und dann werden so viele Würfel gewürfelt wie die Summe der genannten Werte. Die drei besten Ergebnisse werden ausgewählt und addiert, und damit muss ein Schwierigkeitsgrad übertroffen werden – meist neun, aber das kann auch nach oben und unten variieren. Hier finden sich auch Regeln für den Kampf gegen die Monster unter dem Bett, was passiert wenn ein Charakter den Mut verliert und was passiert wenn die Seele eines Kindes Schaden nimmt. Die Regeln unterscheiden sich stark vom Vorgänger, sind aber sehr intuitiv und lassen sich sehr schnell erlernen.

Um ein Rollenspiel spielen zu können braucht man natürlich einen Charakter. Mit diesen beschäftigt sich das zweite Kapitel. Zunächst erklärt der Text die Unterschiede zwischen den üblichen Charakteren in Rollenspielen und denen in Kleine Ängste, und dass man sich erinnern sollte, wie es als Kind war. Danach geht es an die Charaktererschaffung. Nachdem man sich ein Konzept und einen Namen für seinen Charakter ausgedacht hat ist die erste Entscheidung die man treffen muss, das Alter des Charakters. Charaktere in Kleine Ängste können zwischen 6 und 12 Jahre alt sein. Je älter ein Charakter ist, desto höher können seine Werte sein – bis auf Glauben, davon haben jüngere Charaktere mehr. Danach darf der Spieler Punkte auf die fünf Attribute – Hände-und-Füße, Muskeln, Köpfchen, Mund und Geist – verteilen. Jedes Attribut beginnt mit einem Punkt, und es dürfen so viele Punkte verteilt werden wie der Charakter Jahre alt ist. Danach sucht der Spieler eine besondere Stärke und eine Schwäche aus, die den Charakter ausmachen. Jeder Charakter hat außerdem drei Tugenden: Glaube (13 minus Alter), Mut (Köpfchen +4) und Seele (Beginnt mit zehn). Zum Schluss hat jedes Kind außerdem vier oder fünf gute Eigenschaften, Dinge die es kann oder mag, und ein oder zwei schlechte Eigenschaften. Außerdem hat jedes Kind so viele “Krimskrams” wie er Punkte in Glauben hat – Dinge die dem Charakter helfen könnten bei seinen Abenteuern. Um den Charakter abzurunden sind noch eine Reihe von Fragen auf der Rückseite des Bogens, die der Spieler ausfüllen sollte. Kein Rollenspiel ohne Kapitel mit Hilfen und Tipps für Spielleiter, und da ist Kleine Ängste keine Ausnahme. Hier finden sich aber nicht nur Tipps, sondern auch Regeln für die Vergabe von Erfahrungspunkte und die Stellschrauben zum Anpassen des Spiels.

Das vierte Kapitel ist das erste von zwei Kapiteln welche die Welt von Kleine Ängste beschreiben. Hier wird die wirkliche Welt beschrieben, wie das Leben eines Kindes aussehen kann, und welche Helfer es im Diesseits gibt. Ebenfalls hier sind die Regeln für Schätze, Dinge die Kinder finden können und die – durch den Glauben der Kinder – über besondere Kräfte verfügen. Aber es gibt nicht nur das Diesseits, sondern auch das Land unter dem Bett, die Heimat der ganzen Monster und schlimmerer Dinge, und dieses Land wird im fünften Kapitel beschrieben. Zunächst wird beschrieben wie Kinder dieses Land betreten, und wie sie zurückkehren können – wenn sie Glück haben. Dann geht es an das Land selbst, das meist sehr vertraut aussieht, wenn auch wie durch einen dunklen, zerbrochenen Spiegel. Aber daneben gibt es noch andere Orte, finstere und gefährliche Orte, wie das Puppenhaus, der Zauberwald oder der Fleischerforst. Und im Herzen dieses Reiches befindet sich der Rabenraum, wo sich der Herrscher des Landes befindet, der Schwarze Mann. Abgeschlossen wird das Kapitel mit den Regeln für Monster, einem Baukasten um Monster zu schaffen, und einigen Beispielen zum losspielen. Das sechste Kapitel gibt dem Spielleiter noch einige vorgefertigte Charaktere, ein fertiges Abenteuer und einigen NSC und Abenteuerideen. Abgerundet wird das Buch durch eine kurze Regelübersicht und einige Kopiervorlagen für NSCs, Abenteuerentwurf, Monsterbogen und Charakterbogen.

Fazit:
Eines ist erst mal sicher: Die Alptraum-Edition von Kleine Ängste ist schon fast ein ganz anderes Spiel geworden. Die Charaktere sind nicht mehr (fast) wehrlose Opfer, sondern durchaus kleine Helden, die sich gegen die Monster unter dem Bett zur Wehr setzen können. Das neue Regelsystem ist interessant und schnell erlernt, und auch das neue Land unter dem Bett ist eine interessante Neuinterpretation. Vermutlich wird es auch der geänderte Hintergrund sein, der den meisten Fans Kopfzerbrechen oder Ärger bereiten wird, aber ehrlich gesagt sehe ich da weniger Probleme – es sollte kein Problem darstellen, beide Versionen des Landes miteinander zu verbinden. Wer weiß, vielleicht ist das Land aus der Alptraum-Edition nur eine Maske, mit der der Schwarze Mann mehr Kinder anlocken will, und darunter befindet sich die alte Welt von Kleine Ängste?
Mein Fazit jedenfalls ist, das Kleine Ängste ein sehr gelungenes Spiel um Kinderängste und Kinderträume geworden ist, und ich kann es nur wärmstens jeden empfehlen, der sich je für dieses Spiel interessiert hat, oder der gerne etwas anderes ausprobieren möchte. Es ist weder besser noch schlechter als das alte Spiel, nur eine andere Interpretation des selben Stoffs.

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