Scherbenfresser
Eine Rezension von Orakel
Vor kurzem kam eine Email von Teddy mit der Anfrage an, ob ich mir das PDF eines neuen Titels ansehen wollte. Ein kurzer Blick auf die Website und tada: Was ich mir gerade vor mir habe ist das dem Prinzip des Erzählspiels folgende „Scherbenfresser“ von Gianni Ventrella.
Bevor wir uns allerdings mit den inhaltlichen Begebenheiten hinter diesem Titel auseinandersetzen, will ich erst einmal ein paar Worte zur Aufmachung dieser 162 Seiten umfassenden Geschichte verlieren: Wenn man einfach nur das Cover vor sich sieht, springt einem zuerst die Form direkt ins Auge. Das Cover ist annähernd Quadratisch gehalten. Jedenfalls sind die Maße so gesetzt, dass man zuerst an eine CD denkt, deren Booklet man potentiell durchblättert. Eine dunkle Klauenhand, welche nach anscheinend schwebenden Glasscherben zu greifen scheint, steht vor einem eher waberndem Hintergrund aus violett und flieder Farbtönen, die in ein weiß übergehen und über all dem steht die Schrift „Scherbenfresser“, für welche ein Font gewählt wurde, der Assoziationen in Richtung eingeritzt erweckt. Das Ganze sieht aus wie eine Aneinanderreihung absichtlich herbeigeführter Kratzer. Dazu kommt dann im Inneren ein Seitenrahmung, die zwar in den üblichen, zweckmäßigen Graustufen gehalten wurde, dafür aber eine ständige Andeutung des Themas der „Scherben“ beibehält. (Das erweckt bei den heutigen Sehgewohnheiten zwar eine geradezu ins anachronistisch gehende Irritation, bleibt aber dennoch sehr schön.)
Und der Begriff der „Scherbe“ ist dabei eine sehr passend gewählte Metapher. Scherben sind Puzzleteile, die weniger geplant, als viel mehr durch gewaltsame Einwirkung auseinander gerissen wurden und zusammengesetzt den Bruchteil eines ursprünglichen Bildes ergeben können. (Je nachdem, wie viele Teile dieses Puzzles man wieder zusammensetzt.)
Ich erwähne das deswegen, weil der auffälligste Mechanismus des Spieles eben jener Aspekt des puzzlens ist.
Doch fangen wir das erstmal an einer anderen Stelle an: Im Kern geht Scherbenfresser von einer konventionellen Runde aus einer spielleitenden Person (hier als „Schicksal“ bezeichnet) und einer unterschiedlich großen Anzahl von Spielern (in diesem Kontext als „Überlebende“ bezeichnet) aus.
Dieser Punkt der Bezeichnung des „Überlebenden“ ist dabei auch schon ein sehr definierender Faktor, was die Ausgangslage einer entsprechende Runde angeht: Die Katastrophe ist bereits passiert und die Charaktere der Spieler erwachen ohne die geringste Erinnerung an das eigentliche Geschehen. Die Basisannahme hierbei ist, dass dieser Ereignis, im weiteren Verlauf des Buches immer wieder als „Schrecken“ bezeichnet, dermaßen grauenhaft wahr, dass die gesamte Persönlichkeit, soweit es das Kurzzeitgedächtnis betrifft (und wohl stellenweise auch das Langzeitgedächtnis), ausgelöscht wurde. Die Szene, in der die Charaktere das Bewusstsein wieder erlangen, ist also (im übertragenen Sinn) der Standort einer Katastrophe, die wohl auch an den äußeren Anzeichen als solche irgendwie zu erkennen ist. Das Ziel des Spiels ist es jetzt, im Verlauf eine Erzählung zu schaffen, in der die einzelnen Charaktere herausfinden können, wer sie eigentlich sind, warum sie an diesem Ort sind und was jetzt genau geschehen ist.
Das wird allerdings nicht „aus der Luft“ heraus erschaffen. Denn abgesehen von den üblichen Stiften, 3W6 pro Spieler und einer vorgegebenen Anzahl von Tokens als „Scherben“, bedient sich Scherbenfresser zur Erschaffung des Settings eines Elements, das ich in der Regel gerne als „Old School Methodik“ bezeichne. Im Kern gibt es eine Reihe von Zufallstabellen, die aufeinander aufbauend einen Deskriptor liefern, welcher das ursprüngliche Ereignis definiert. (In gewisser Weise erwürfelt man sich hierbei mit mehreren Sechser-Tabellen ein Ereignis in einem Setting mit gewissen zusätzlichen Beschreibungen.) Das heißt nicht, dass man auf diesem Weg von vorneherein alles über das Ereignis weiß. Man bekommt einen groben Hinweiß, der dann im Spielverlauf weiter ausgearbeitet wird. Der Punkt hierbei ist nur, dass man durch diese Tabellen gewisse Hinweise bekommt, was für Charaktere spielbar sind. (Ein elfischer Paladin in entsprechender Rüstung ist vermutlich nicht sonderlich glaubwürdig, wenn das Ereignis im Jahr 1920 geschehen ist.)
Auf eine Ähnliche Weise funktioniert dann auch schon fast die Charaktererstellung des Spiels: Was man ausfüllt sind Name, sowie das äußere Erscheinungsbild und ein spezieller Umstand der noch in Erinnerung geblieben ist. (Der Punkt bei dieser Sache ist, dass diese beiden Aspekte des Charakters ebenfalls über Zufallstabellen bestimmt werden können.)
Und dann beginnt man im Grunde auch schon das Spiel: Es gibt einen festen Verlauf von fünf „Spielzügen“, die in einzelne Phasen unterteilt sind, in denen die überlebenden Versuchen Details über das Ereignis und den Schrecken aufzubauen. (Hierfür existiert im Grunde eine Art Fragenkatalog, an dem man sich orientieren kann, um aus dem Stegreif heraus Aspekte zu etablieren.) Der zentrale Mechanismus dabei sind allerdings die Scherben, welche während dieser Spielzüge etabliert und dann im Sinne eines Zufallsereignisses erspielt werden und auf diesem Weg das Ende eines jeweiligen Spielzuges mitdefinieren: Im Grunde kann man sagen, dass das Gewinnen oder Verlieren von Scherben (und somit etablierten Szenarien-Aspekten) den Ton des jeweiligen Spielzuges setzt, indem hier um Hoffnung oder Verzweiflung gespielt wird. Hoffnung auf einen positiven Ausgang (und damit erspielte Scherben) werden nämlich in der Mitte des Tisches zu einem Mosaik zusammengelegt.
Dieses Mosaik wiederum hat am Ende, der finalen Konfrontation im finalen, dem fünften Spielzug, noch eine besondere Aussage: Wenn die Charaktere sich nämlich dem Scherbenfresser stellen müssen würfeln sämtliche Spieler noch einmal auf das potentielle Endergebnis. Man entfernt dabei die Scherben wieder aus der Mitte entsprechend der erreichten Augenzahl. Und der Part, der hier kontra-intuitiv ist, ist folgender Umstand: Um einer Art „Happy End“ entgegenzutreten müssen am Ende noch Scherben in der Mitte liegen. (Im Grunde ist man als Spieler also eigentlich froh, je niedriger die erwürfelte Augenzahl ausfällt). Anhand einer bereit gestellten Tabelle kann man dann über die noch in der Mitte befindlichen Scherben den Grundton für das Ende der Erzählung finden.
Den Abschluss bilden dann noch weiterführende Gedankengänge, wie „spielleiterlose“ Runden (die dann allerdings eher rotierende Spielleiter haben) oder aber auch eventuelle Sicherheitswerkzeuge, welche in den letzten Jahren in der Szene vorgestellt wurden. (Wobei eigentlich auch hier wie so oft die Devise an erster Stelle steht: Redet miteinander. Sollte das aus bestimmten Gründen nicht möglich sein, kommen immer noch andere Hilfsmittel in den Einsatz.)
Ebenso sind noch einige Worte zu den einzelnen Settings inklusive Inspirationsquellen aus der Literatur beigefügt.
Das ist bis hierhin natürlich nur die übliche Zusammenfassung der üblichen Mechanismen, um ein Gesamtbild zu beschreiben. Insgesamt tute ich mich persönlich nämlich sehr schwer damit, diese Mechanismen in ein vernünftiges Bild geordnet zu bekommen. Wenn man sich nämlich die einzelnen Elemente der jeweiligen Mechanismen für sich betrachtet anblickt ist durchaus verständlich, wieso bestimmte Gedankengänge zu einer Wahl dieses speziellen Elements geführt haben. Die grundlegende Stimmung und somit die Tonalität dieses Spieles sollen offensichtlich die genre-immanenten Stimmungen, welche allgemein der Emotion des Horrors innewohnen, abbilden. (Wer mich über die letzten Jahre verfolgt hat weiß, dass ich da ein paar sehr bestimmte Kommentare über die Natur des Horrors und seine dysfunktionale Erscheinung als Element am Spieltisch für sich bereits beschrieben habe.) Insofern arbeitet auch Scherbenfresser wieder mal mit der Form der Erwartungshaltung an Horror und nutzt da gewisse Notwendigkeiten, welche das intellektuelle Element dieses Genres in seiner grundsätzlichen Erfahrbarkeit für den Spieltisch mit sich bringt. Gerade dieses Element des Puzzlens in Form der zu erspielenden Scherben ist sowohl in seiner haptischen Natur, als auch in seiner Symbolik ein unglaublich gelungener Lösungsweg, was die basale Vorgehensweise angeht. Die Tatsache, dass man hier ein zweites Mal die Elemente eines Schreckens durchleben muss, der so grausam war, dass er den eigenen Verstand bereits einmal beinahe ausgelöscht hatte, ergibt in seiner performativen Ästhetik einen sehr hohen Eigenwert.
Der Umstand, dass man Spielzug für Spielzug in der Erzählung um Hoffnung oder Verzweiflung ringt, indem man das eigene Verständnis über das potentiell eigene Versagen und mögliche Hinweise erlangt, die vielleicht dazu führen, das man den Schrecken zu einem höheren Wohl eventuell noch einmal abwenden kann, geht absolut konform mit allen anderen Elementen.
Aber, und das ist dabei der besonders problematische Aspekt in dieser gesamten Konstruktion: Es bedarf eines gegnerischen Elements. Der Scherbenfresser als großer Endgegner ist in seiner Struktur ein NSC, welcher zwar aus den durch die von Spielern beigesteuerten Elemente erzeugt wird, aber in letzter Konsequenz den moderierenden Ansatz des SLs bedarf, um mit so etwas wie einer eigenen Agenda versehen zu werden. Im Grunde genommen haben wir hier also auf der Metaebene betrachtet sämtliche notwendigen Elemente vereint, um dem Spielplot das intellektuelle Merkmal mitzugeben, dass überhaupt erst notwendig ist, um die notwendige Einstellung anzunehmen, dass man es hier mit einem Horror-Szenario zu tun hat.
Allerdings kommt dann das wegführende Hilfsmittel des Fragenkataloges, der die Spieler während der einzelnen Spielzüge dazu bringen soll Elemente in die Geschichte einzubringen, die das Versagen der Spieler im Rahmen des ursprünglichen, vergessenen Ereignis formulieren. Und wenn man dazu noch die Überlegungen über die während der einzelnen Spielzüge rotierende Aufgabenverteilung der Schicksalsposition ins Auge fasst, kommt sehr schnell der Verdacht auf, dass hier eigentlich von Anfang an mit einer spielleiterlosen Matrix im Hinterkopf gearbeitet wurde. Vor allen Dingen, dass sich der Umstand mit der szenengestaltenden Fragestellung am ehesten mit Improtheatermechanismen verstehen ließen. Und auch wenn offensichtlich ist, dass man hier die meiste Zeit eher über den Ansatz der Opferrollen ins Spiel findet, scheinen dann doch die meisten anderen Element eher in die Richtung zu gehen, dass die Spieler die Eskalationsleiter ihrer Figuren noch weiter nach oben schrauben sollen, um somit einen in der Fiktion gesattelten, noch tieferen Fall zu ermöglichen. Das gerade in Spielfiguren begründete Ambitionen für Erzählspiele das notwendige Salz in der Suppe sind, ist unbestreitbar. Der Punkt in diesem Rahmen ist nur, dass es einen Unterschied macht, ob man die Geschichte des Scheiterns an den eigenen, zu hoch gegriffenen Ambitionen erzählt, oder ob man die Mechanismen in der Hinsicht nutzen muss, um sich den Folgen des eigenen Versagens (das um einiges Schlimmer als der Tod in diesem Fall ist) noch einmal zu stellen. Insofern ist die gesonderte Instanz der Rolle des Schicksals in diesem Fall bitter notwendig. (Schlicht und ergreifend, weil dadurch immer noch ein gewisser Grundton erhalten bleiben kann, und ein unerwartetes Element bestehen bleibt, dass potentiell den Fokus in eine leicht unangenehme Richtung trotz allem steuert.)
Insofern ist das hier unter der Voraussetzung, dass man mit diesen Mechanismen die rein kognitive Ebene der Faszination über das Themenfeld Horror ansprechen will, durchaus ein brauchbares System mit allen seinen Funktionen.
Fazit
Ich will von vorneherein eines nochmal klar stellen: Wann immer wir in Spielen das Themenfeld Horror (und zwar in dieser Funktion als Superlativ der Erscheinungsformen von Angst) bearbeiten gibt es dort meistens drei unterschiedliche Zielsetzungen: 1.) Das zum Scheitern verurteilte Empfinden reinen Horrors im emotionalen Haushalt der Spielers. 2.) Die immersionistische Annäherung an dieses Empfinden über emotionale Begleiterscheinungen. (Die am einfachsten dafür verständliche Form ist der wackelnde Jenga-Tower von Dread. Stress als zentrales Element der Immersion erzeugt zwar keinen Horror an sich, gibt aber dem Spieler ein vergleichbares Gefühl der Anspannung und kann dadurch eben genau die Form einer wenn nicht gleichen, so immerhin ähnlichen Erfahrung erwirken.)
3.) Die dritte Form ist dabei ungemein komplizierter, weil sie tatsächlich die notwendige Disziplin allen Beteiligten abverlangt, sich auf einen bestimmten Stimmungsbogen einzulassen. Hierbei wird nämlich nicht die Emotion, sondern die Faszination an der Thematik Angst angesprochen. Scherbenfresser ist im Grunde ein Spiel, das sich genau in dieser dritten Gruppe von Zielsetzung befindet. Womit hier gearbeitet wird ist der reiche Schatz an kulturellen Symbolen, von denen wir heutzutage wissen, dass sie auf einer konkreten oder abstrakten Ebene für Angst stehen. Und das verlangt von einer spielenden Gruppe grundsätzlich ab, dass sie mit der notwendigen Disziplin an das vom „Schicksal“ ausgebreitete Szenario herangeht. Es ist nämlich mit einem solchen Spiel wesentlich Leichter eine bestimmte Form von möglicher Stimmung kippen zu lassen (wodurch wir uns dann entweder in einer Form Komödie wiederfinden, oder – so man den Blick auf Systeme mit erzählerischer Idiologie und konventionellem Regelkern wirft – schnell dem Vorwurf einer Machtfantasie/Superheldenorgie konfrontiert sind.) Keines dieser potentiellen Endergebnisse ist an sich negativ, allerdings sollte man sich von vorneherein darüber im klaren sein, was man tatsächlich für einen Ton in dieses Spiel bringen will. (Und zwar als Gruppe insgesamt.)
Das mag jetzt insgesamt negativer klingen als es gemeint ist: Wie ich bereits sagte, sehe ich in sehr vielen einzelnen Mechanismen an sich unglaublich gute, clevere Ideen, die eine stimmige Symbolik aufbereiten sollen, um das Ziel des Spiels optisch und haptisch verständlich zu machen. Und das sind wirklich wunderbare Elemente für sich betrachtet.
Allerdings (und das ist der zentrale Punkt über den Forenkriege seid Jahren geführt werden) ist dieses Spiel hier wirklich ein sehr spielergetriebenes Spiel. Und über diesen Punkt müssen sich alle beteiligten Grundsätzlich bewusst sein.
Vielen Dank für die Rezension!
Sind bei manchen Begriffen in Anführungszeichen Abweichungen vom Regelwerk beabsichtigt?
Zum Beispiel „Spielzüge“ statt Szenen, „spielelleiterlos“ statt wechselnder Spielleitung?