Second Sight
Übersinnliche Kräfte für die neue Welt der Dunkelheit
Zu den definierenden Elementen des Horrors bzw. des Urban / Dark-Fantasy gehören auf jeden Fall üble Hexereien und übernatürliche Kräfte. Was wäre Lovecrafts „Cthulhu-Mythos“ ohne die Beschwörungen unzähliger Kultisten, oder Kings „The Shining“ ohne hellseherische Kräfte? Genau. Aus diesem Grund war ich einerseits begeistert, anderseits ein wenig zurückhaltend, als White Wolf das Buch [I]Second Sight[/I] ankündigte. Begeistert, weil mich das Buch in die Lage versetzen sollte, okkulte Charaktere zu erstellen, ohne gleich [I]Mage: the Awakening[/I] oder [I]Vampire: the Requiem[/I] auszupacken. Zurückhaltend, weil White Wolf zumindest in der alten Welt der Dunkelheit es nie geschafft hatte, solche Regeln überzeugend zu entwickeln. Warn meine Befürchtungen berechtigt? Finden wir es heraus.
[I]Second Sight[/I] ist – wie alle Bücher dere neuen Welt der Dunkelheit – ein solider Hardcover, und gehört der sogenannten „blauen Reihe“ an, ist also ein Buch, das primär zum Einsatz bei Sterblichen gedacht ist. Das Artwork reicht von „Kompetent“ bis „Herausragend“, und ist inhaltlich und stimmungstechnisch dem Inhalt des Buches angemessen. Das Buch wird – wieder White Wolf typisch – von einer kurzen Geschichte eröffnet, welche Szenen aus dem Leben eines Mannes beschreibt, der über übersinnliche Fähigkeiten verfügt. Game Fiction kann dazu beitragen, beim Leser ein Gefühl für den Stoff zu erwecken, oder eine gewisse Perspektive zu eröffnen – wenn sie gut geschrieben ist, statt uninspiriert und langweilig, wie in diesem Fall. Die darauf folgende Einleitung stellt dann das Thema des Buches nochmal vor, und bietet eine Übersicht über die einzelnen Kapitel, zusammen mit einem allgemeinen Hinweis, wie diese Kräfte mit den übernatürlichen Bewohnern der Welt der Dunkelheit interagieren könnten.
Das erste Kapitel trägt den Titel „Not Normal“, und beschreibt, auf welche Arten ein Charakter zu solchen Fähigkeiten kommen kann, wie solche Kräfte möglicherweise in einer Kampagne gesehen und verstanden werden könnten, und ähnliche nützliche Dinge. Es handelt sich hierbei um ein generelles Spielleiter-Kapitel, in dem auch das Konzept des „Lesser Template“ vorgestellt wird, und wie man damit umgeht. Die in diesem Kapitel aufgeführten Gedanken und Ideen sind alle prinzipiell nicht schlecht, aber um wirklich brauchbar zu sein ist dieses Kapitel einfach zu kurz. Hier wird zu wenig getan um einen Spielleiter wirklich Hinweise zu geben, wie sie eine entsprechende Geschichte erstellen sollen.
„Psychic Phenomena“, eines der beiden Herzstücke des Buches, besteht hauptsächlich aus neuen Merits, aufgeteilt nach psychichen „Disziplinen“ (Nicht zu verwechseln mit vampirischen Disziplinen, sondern Gruppen von ähnlichen Kräften). Die Liste von Kräften ist ziemlich umfangreich, und beschreibt – so weit ich das überblicken kann – so ziemlich jede psychiche Kraft, die in solchen Geschichten vorkomt. Psychic Merits werden genauso behandelt wie gewöhnliche Merits, und können, wenn der Spielleiter es gestattet, auch bei der Charaktererschaffung erworben werden – ansonsten nur mit seiner Erlaubnis, wenn seiner Meinung nach ein entsprechender Anlass stattgefunden hat. Abgerundet wird das Kapitel von einer – viel zu kurzen – Übersicht über die Geschichte der Erforschung psychicher Phänomene.
Direkt im Anschluß folgt dann das zweite „Kernthema“ des Buches, „Low Magic“. Die Magie, die hier beschrieben wird, ist nicht die erderschütternde, weltverändernde Magie von [I]Mage: the Awakening[/I], sondern wesentlich subtiler, auf Rituale und Philosophien aufbauend, die in unserer „realen Welt“ auch existieren. Die Autoren beschreiben zunächst, wie sich diese Magie in der Welt der Dunkelheit präsentiert, und wie sie spieltechnisch funktioniert, mit Hinweisen, wie man die vorgestellten Magiepfade auch als Legacies für [I]Mage: the Awakening[/I] verwenden könnte. Anschließend wird die Charaktererschaffung beschrieben, wobei Thaumaturgen ein „echtes“ Lesser Template verwenden, welches im fünften Schritt der Charaktererschaffung zur Anwendung kommt. Jeder der sechs Pfade (Apostle of the Dark One, Ceremonial Magician, Hedge Witch, Shaman, Taoist Alchemist und Voudoun) verfügt über einen Merit, welches seine Magie definiert, und eine Liste von Merits, die ein Praktizierender später erwerben kann, um seine Magie darzustellen. Jeder dieser Pade stellt dabei einen bekannten Magischen Archetypen dar.
Das vierte Kapitel, „Reality bending horrors“, richtet sich wieder an den Spielleiter, und bietet diesem ein Werkzeugkasten der besonderen Art: Tipps und Hinweise zur Erschaffung eines glaubwürdigen okkulten Gegenspielers, und ein Baukasten für das jenseitige Wesen dem dieser dient. Allzuoft wird – gerade in Cthulhu-Kreisen – vergessen, das die Schurken, die solchen Wesen dienen, meist komplexere Motivationen benötigen als „Wahnsinn“ oder „ich bin Böse“, und es ist schön zu sehen das White Wolf dem Rechnung trägt. Abgeschlossen wird das Buch durch ein Abenteuer, „What you wilt“, in dem die Spieler einer Kraft nachjagen, welche sich virulent in den Köpfen der Menschen verbreitet.
[B][U]Fazit:[/U][/B]
Wenn ich nur ein Quellenbuch für die neue Welt der Dunkelheit empfehlen sollte, dann wäre es [I]Second Sight[/I]. Das Buch bietet alles, damit sowohl Spieler als auch Spielleiter okkulte Charaktere erschaffen können, bleibt aber dennoch auf einem Niveau, das dem von „normalen“ sterblichen Charakteren entspricht. Der Text ist zwar zeitweilig recht trocken, aber das sollte niemanden davon abhalten, das Buch zu lesen. Eine definitive Kaufempfehlung!
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