Du bist Tot – Charles Stross
Ich bin vor ein paar Jahren eher zufällig auf [URL=“http://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Stross“]Charles Stross[/URL] gestoßen, vor allem durch die sehr schöne Umschlaggestaltung von Heyne zu „Singularität“ und „Supernova“. Was ich im Inneren fand, war eine Vermischung klassischer [URL=“http://de.wikipedia.org/wiki/Space_opera“]Space Opera[/URL] mit Gedanken und Konzepten des [URL=“http://de.wikipedia.org/wiki/Transhumanismus“]Transhumanismus[/URL] – quasi eine Neuerfindung des Genres. Mit diesen beiden Titeln hat Stross sich als ein Autor gezeigt, den man im Auge behalten sollte; dieser Eindruck bestätigte sich mit weiteren Büchern, die nach und nach auf Deutsch übersetzt wurden: „Accelerando“ (Welches man sich [URL=“http://manybooks.net/titles/strosscother05accelerando-txt.html“]hier[/URL] legal kostenlos herunterladen kann) und „Glashaus“, die sich mit der sich immer schnelleren Entwicklung der Menschheit und dem Erreichen der [URL=“http://de.wikipedia.org/wiki/Technologische_Singularit%C3%A4t“]Singularität[/URL] beschäftigten. „Dämonentor“, der erste Teil seiner Reihe um eine britische Behörde für das Okkulte und ihren Kampf gegen den lovecraft’schen [URL=“http://de.wikipedia.org/wiki/Cthulhu-Mythos“]Cthulhu-Mythos[/URL], „Kinder des Saturn“, ein Krimi in einer Robotergesellschaft, die sich vor der Wiederkehr des Menschen fürchtet. Heute beschäftigen wir uns mit seinem zuletzt auf Deutsch erschienen Roman: „Du bist Tot“, erschienen 2010.
Der Roman schlägt mit 544 Seiten zu Buche, wobei der eigentliche Text nur 509 Seiten beansprucht, den Rest füllt ein ausführliches Glossar. Dieses Glossar erklärt nicht nur Fachbegriffe, die vielleicht nicht jedem Leser geläufig sind, sondern auch seltsame Begriffe und Redewendungen, die sich zwangsläufig aus der Übersetzung und dem kulturellen Hintergrund ergeben. Ein Beispiel: nur wenige im deutschen Sprachraum können mit dem Begriff [URL=“http://de.wikipedia.org/wiki/Daleks“]“Dalek“[/URL] etwas anfangen. Optisch erinnert die Aufmachung an die Computerspiele der „Grand Theft Auto“-Reihe, was aufgrund der Thematik vielleicht keine allzu schlechte Wahl war. Lustigerweise haben es sowohl der Autor als auch William Gibson, der das Testamonial zum Roman schrieb, auf den Umschlag geschafft. Doch genug des optischen, kommen wir zum Inhalt des Buches.
Die Geschichte beginnt damit, das Sergeant Sue Smith zum Tatort eines Banküberfalls gerufen wird. Klingt dies im ersten Moment noch relativ normal, wird ihr langsam klar, dass es sich um einen Überfall innerhalb einer virtuellen Welt handelte. Eine Horde Orks ist von einer anderen virtuellen Realität aus in AVALON VIER eingedrungen, und hat einen Haufen Schätze aus der hiesigen Bank geplündert. Sue ist hoffnungslos mit der Angelegenheit überfordert, aber da sie die erste Beamtin vor Ort war, wird sie der zuständigen Abteilung unterstellt, und lernt mehr über Computerkriminalität als ihr lieb ist. Gleichzeitig wird das Wirtschaftsunternehmen das hinter Hayek, den Betreibern der Bank in AVALON VIER, steht hellhörig, als die Polizei eingeschaltet wird und schickt ein Krisenteam los um die Situation vor Ort zu überprüfen. Zu diesem Team gehört auch die junge Wirtschaftsprüferin und Rollenspielerin Elaine Barnaby, die wegen ihrer Spielerfahrung ins Team aufgenommen wird. Da man aber noch einen Spielexperten braucht, einen Programmierer der Erfahrung mit solchen Onlinewelten hat, wird über eine Jobbörse ein junger Mann namens Jack Reed angeheuert, der wenige Tage vorher seinen Job als Entwickler solcher Welten verloren hat und zu Beginn der Geschichte betrunken durch Amsterdam fällt. Vor Ort stellt sich heraus das der Fall noch viel komplizierter ist, als es den Anschein hat. Der Chefprogrammierer existiert gar nicht, bei Hayek geht nicht alles mit rechten Dingen zu und zu allem Überfluss steckt der Geheimdienst wohl auch noch in der Geschichte mit drin. Die Grenzen zwischen den Vorfällen in der virtuellen Welt und der „wirklichen“ Welt verschmelzen immer mehr. Als sogar Kämpfe innerhalb des Spiels auf die Wirklichkeit überlappen und Hacker die Netzwerke des ganzen Landes außer Gefecht setzen, spitzt sich das ganze immer mehr zu, bis es zur Konfrontation mit dem wahren Schurken kommt…
Fazit:
Während Stross‘ Romane bisher immer in einer fernen Zukunft oder in den Winkeln der britischen Bürokratie angesiedelt waren, ist er mit diesem Roman fast in der Gegenwart angekommen. Es gelingt ihm, ein Bild von Schottland im Jahre 2018 zu zeichnen, das sehr glaubwürdig wirkt, sowohl von der kulturellen (Schottland als unabhängiges EU-Land) als auch von der technologischen Entwicklung her. Stross zeichnet hier eine Zukunft, in der die Realität mit Hilfe von „Smartbrillen“ virtuell ergänzt wird, sei es durch eingeblendete Routenplaner, polizeiliche Unterstützung durch COPSPACE (ein Programm, das in die Datenbrillen der Polizisten eingeblendet wird um ihnen bei der Aufklärung von Fällen und dem Erledigen von Papierkram zu helfen) oder tausend andere Kleinigkeiten. Auch sehr gelungen ist sein Weiterspinnen der Entwicklung von [URL=“http://de.wikipedia.org/wiki/Massively_Multiplayer_Online_Game“]MMOs[/URL], [URL=“http://de.wikipedia.org/wiki/Alternate_Reality_Game“]ARGs[/URL] und ähnlichen Phänomenen.
Eines der interessantesten Dinge an diesem Roman ist allerdings die Wahl der Erzählperspektive. Stross hat hier die zweite Person gewählt: Du bist Sue Smith und klärst den Fall auf, Du bist Jack und kämpfst gegen die Dämonen deiner Vergangenheit und Du bist Elaine und versuchst deinen Job zu erledigen. Am Anfang stört die Perspektive, man ist sie nicht gewohnt und meistens wirkt diese Art zu erzählen eher sperrig, aber Stross gelingt es daraus eine unterhaltsame Lektüre zu formen. Durch diese Perspektive gibt er dem Leser außerdem das Gefühl, es handle sich bei den Charakteren um Avatare, um Charaktere in einem Spiel. Charaktere, in die der Leser quasi wie in einem Abenteuerspiel schlüpfen kann.
Unterm Strich bleibt ein Roman zurück, der nicht nur als einer der ersten (wenn nicht sogar als erster) virtuelle Kriminalität beleuchtet und durch seine ungewohnte Erzählperspektive zum Nachdenken auffordert, sondern dabei auch noch sehr unterhaltsam ist. Ein weiterer Ausnahmeroman von einem Ausnahmeautor. Es bleibt nur noch abzuwarten, wo uns Stross als nächstes hinbringt.
„Halting State“ (Halting State Series #1)
Ace Books, New York City 2007
Übersetzung aus dem Englischen durch Usch Kiausch
Heyne, München 2010
ISBN-10 3453526872
ISBN-13 978-3453526877
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