Cannibal Sector 1

Neues Material für SLA Industries

Schon das Leben in Mort City ist unerbitterlich. Die eh schon dreckige und brutale Welt des Fortschritts wird in den Cannibal Sectors aber noch einmal härter. Wo das tägliche Chaos in der Stadt noch von Propaganda und Ordnungskräften in seinen schlammigen Bahnen gehalten wird, sind die umliegenden Sektoren der Inbegriff des tödlichen Chaos…

Editionsbericht

SLA Industries ist zuerst Anfang der 90er Jahre erschienen und hat sich schnell eine stetige Fanbasis erarbeiten können. Der makaber-brutale und gleichzeitig satirische Stil hat einen eigenen Charme, der das Spiel deutlich von der Konkurrenz abhebt und zum Kultspiel werden ließ. Zusammen mit dem fantastischen Artwork und dem komplexen Metaplot hat sich hier ein einzigartiges Produkt herausgebildet, das nicht totzukriegen ist. Nach einiger Unterbrechung erschien 2007 das letzte große „klassische“ Produkt: Cannibal Sector 1. Zeitnah erschien mit den Hunter Sheets 1 eine Art Abenteuerband, bevor es wieder einmal ein paar Jahre ruhig wurde. Mit neuem Schwung setzte sich die Reihe Anfang der 2010er fort. Diesmal mit kleinen Data Packets [etwa: [1],[2]), die mit hochwertigem Artwork und knallig-grünem Hintergrund in ganz neuem Stil daher kamen. Neben dem Flair wurde auch die Spielwelt deutlich aktualisiert und subtilerer Horror eingeführt. Insbesondere die Traum-Entitäten sorgten für neuen Stoff und Fans durften sich nun auch näher mit den Sagenumwobenen Root Dogs befassen. Die Packs sollten etwas wie eine Hinführung auf ein ganz neues, zeitgemäßes SLA sein. Angekündigt war ein großes Quellenband zum Shi’An Blood Cult und sogar eine gänzlich überarbeitete neue Edition sollte erscheinen. Dem kam jedoch ein Ausflug in die Tabletop-Welt zuvor.  Mittlerweile gibt es unter dem Label Daruma Productions eine ganze Bandbreite an hochwertigen Miniaturen und ein eigenes Regelsystem, das sich auch im hier besprochenen CS 1 niederschlägt. Für uns Rollenspieler sind die größeren News aber, dass die angedachte zweite Edition mittlerweile bei Kickstarter erfolgreich unterstützt wurde. Der große Traum eines neuen, zeitgemäßen SLA’s ist also zum Greifen nah. Nun heißt es nur noch bis Juni warten oder den Quick Start ausprobieren…

Cannibal Sector 1 – CS 1

Das hier besprochene Quellenbuch Cannibal Sector 1 (CS 1) steht nun zwischen all den Stühlen. Es ist zuerst bei Kickstarter als Teil des Tabletop-Projektes realisiert worden. Der satte 352-Seiten fassende Band enthält aber nur knapp 50 Seiten Regeln fürs Tabletop. Mit anderen Worten: CS 1 ist zu aller Erst ein Rollenspielquellenbuch und enthält natürlich auch die Regeln und Werte dafür. Referenzsystem ist dabei das klassische SLA Industries-Regelsystem. Während es also noch nicht auf die 2.0 Regeln gebracht wurde, ist zumindest der Hintergrund deutlich aktualisiert worden. Aspekte der Data Packets wurden aufgenommen und dem Band geht sogar eine Kanonübersicht voraus, die einige der klassischen Quellenbücher ausschließt bzw. ersetzt. So natürlich auch das CS 1 Quellenbuch von 2007. Das kann gerade für Neueinsteiger etwas chaotisch wirken. Im Endeffekt ist man mit einem Grundbuch, den Data Packets und dem hier besprochenen CS 1 aber auf einem guten Stand. Ärgerlich ist dennoch, dass der große Band zwar kanonisch für SLA 2.0 bleibt, aber auf den alten, etwas sperrigen SLA 1.0 Regeln basiert und daher für die neue Edition eine (angekündigte) Converertierungsdatei braucht. Sofern man nicht eh auf etwas Hausgemachtes zurückgreift… Das neue CS 1 ist dabei mehr als eine bloße Aktualisierung des Vorgängerbandes. Hier haben wir es mit einem gänzlich eigenständigen Buch mit deutlich mehr Umfang und neuen Inhalt zu tun. Sicher, einzelne Illustrationen wurden neu koloriert und wiederverwendet, die meisten sehen wir hier aber zum ersten Mal. Und auch wenn man die Fraktionen und manche Kernprinzipien aus der ersten Auflage Wiedererkennen kann, wurden diese so intensiv überarbeitet, dass nan auch hier von einer Neuentwicklung sprechen kann.

SLA Industries

Cannibals haben mit den ursprünglichen Bewohnern der Gebiete nur noch wenig gemein.

Fangen wir aber ganz vorne an. Die World of Progress ist eine düstere, überzeichnete Zukunftsvision die sich am besten als Hard Sci-Fi bezeichnen lässt. Häufiger Vergleichspunkt ist das Cyberpunk-Genre. Wie etwa auch im verchromten Platzhirsch Shadowrun, spielen wir Elite-Individualisten die in Kleinteams Aufträge annehmen. Style over Substance ist dabei sogar tief in die Regeln von SLA-Industries eingebrannt. Wir gehen so etwa Verträge mit Fernsehstationen ein, die uns mit Videodrohnen begleiten um unsere blutigen Missionen zu dokumentieren. Am besten tragen unsere Operatives (OP) dann auch noch Werbeaufdrucke und setzen bei ihren Missionen auf spektakuläre Action. Schnell werden dann auch die Unterschiede deutlich. Wir sind nicht die coolen Cyberpiraten, die sich in den Schatten für anonyme Auftraggeber verdingen, sondern vollstrecken Aufträge für den einzigen megakonzern SLA Industries. Unsere Gegner sind neben den üblichen Serienmördern, marodierenden Monstern oder dem besagten Blood Cult etwa auch die ominösen DarkNight-Terrorzellen die das system stürzen wollen. Diese Twists, zusammen mit dem äußerst herben Stil der detaillierten Welt bringen ihren eigenen Charme mit. Hinzu tritt ein ausgefeilter Metaplot der sich um die großen Figuren der World of Progress (WoP) dreht. Hinzu tritt eine beständige Suche nach „Wahrheit“. Als OPs steigen wir zäh in der Sicherheitsstufe auf um immer heiklere, vertraulichere und interessantere Aufträge annehmen zu können – Die sich dann übrigens auch sehr stilvoll als Handouts nutzen lassen und je nach Auftragsart  farblich codiert sind. Mit den Traumentitäten wurde der Horroraspekt dabei verstärkt, es kann aber auch ganz mundan gegen verrückte Kriegsveteranen, durchgedrehte Mutanten oder Serienmörder gehen. Mit anderen Worten: SLA Industries ist ein Traum für Fans düsterer, brutaler, militärisch angehauchter Zukunft mit schottischem Einschlag. Mehr dazu in unserer Systemübersicht oder wenn die 2.0 erscheint…

Die Cannibal Sectors

Mort City ist der Schauplatz der meisten SLA-Aufträge und bietet genug Platz für zahllose Rollenspiel-Kampagnen. Die Stadt ist jedoch nicht isoliert und umgeben von einer Art Niemandsland: Den Cannibal Sectors. Geschützt von einer gigantischen Mauer, ständig bewacht von Spezialeinheiten der Shivers – militärischen Polizeitruppen –, gleicht Mort City im Angesicht der Außenwelt fast einer friedlichen Oase. Im umgebenden Ödland herrschen neben Viren und unidentifizierten Kreaturen brutale Fraktionen, die es SLA fast unmöglich gemacht haben, die Gebiete auch nur ordentlich zu kartographieren. Dabei ist CS 1 der interessanteste der fünf bekannten Sektoren, da er direkt an Mort-Stadt angrenzt und von fast allen Fraktionen besiedelt wird. Hier liegt außerdem der Ort des ominösen Salvation Towers. Einst ein Prestigeprojekt das die Stadt erweitern sollte, stürzte dieser Turm von Babel in weiter Vergangenheit ein und riss die Infrastruktur des ganzen ungebenden Gebietes mit sich. So sich selbst überlassen, entstand die Brutzone des Chaos, als die wir die Cannibal Sectors heute kennen. Kriminelle Banden haben die Gebiete nach dem Zusammenbruch des Sektors übernommen und sich im Laufe der Zeit zu Kannibalen entwickelt, die als wilde, brutale Stämme der namensgebende Schrecken der Gebiete sind. Auch DarkNight hat die Anomie der Gebiete schnell genutzt um sich dort niederzulassen und ihre Terrorpläne zu schmieden. Die gefürchteten Carrien konnten sich hier ebenfalls ungestört ausbreiten und gefährliche Mutationen hervorbringen. Noch grauenhafter und Rätselhafter sind die in Schutzanzügen auftretenden Scavs, die mit klinischer Präzision alles verwerten was Ihnen in den Weg kommt.  Der Salvation Tower hingegen wird von Digger bewohnt, einer Manchine, die sich ihre eigene Armee aufbaut. Diese Manchines machen Jagd auf Menschen um sich selber zu vermenschlichen: indem sie sich die Haut ihrer Opfer überziehen. Soviel zum Brutalitätsgrad von SLA…  Neu hinzu treten nun auch die Dream Entities, deren Entstehung einen festen Platz in der Geschichte der Sektoren gefunden hat. Und dann sind da noch die Shivers der neunten Division…

Bellwood Campaign: Operation Bridgehead

Im aktualisierten CS 1 versucht sich SLA die Sektoren zurückzuerobern. Nachdem ein massiver Einsatz von Shivern gescheitert war und die verzweifelte und nun mehr als nur verärgerte neunte Division im Sektor zurückgelassen hat, wurde die Bellwood Campaign ausgerufen. Mittels neuer Strategie und Materialien wurden spezialisierte Shiver-Truppen in den Sektor geschickt um ein Netz aus Brückenköpfen zu errichten, die als sichere Rückzugsorte für  Shiver und Ops genutzt werden können. So gelang es den Sektor teilweise zu erschließen und ein grobes Versorgungsnetz einzurichten. Das bedeutet, dass die „Guten“, also Shiver und Ops nun ein weiterer Einflussfaktor sind. Von der erträumten Rückeroberung ist man aber natürlich noch unendlich weit entfernt. Für das Rollenspiel bedeutet das ein tieferes Eindringen in den Sektor und damit auch mehr Vielfalt. OPs können also für einen einzelnen Auftrag hinausgebracht werden, wir können aber auch eine Kampagne um eine ganze Shiver-Division spielen. Zusammen mit einigen Aufträgen, Regelsets für Shiver, neuen Ausbildungspaketen, einer umfangreichen und reich illustrierten Ausrüstungsliste, Regeln für Krankheiten und Bestien sowie umfangreichen Darstellungen der Geschichte, Orte und Fraktionen bietet der CS 1-Band nun wirklich alles um den Sektor zum verrotteten Leben zu erwecken.

Aufbau, Regeln und der ganze Rest

Die Shivers – hier ein Trooper – werden nicht nur zum Dienst am Schutzwall eingezogen.

Das Hintergrundmaterial des Bandes ist umfangreich und individuell. Eingeschobene Anekdoten, Kurzgeschichten, zahllose Zitate und reichhaltige hochwertige Illustrationen bieten alles was man von einem aktuellen Quellenbuch erwartet. Man merkt dem Spiel und seinem Autorenteam die etwa 20-jährige Erfahrung an, ohne dass CS 1 veraltert wirken würde. Auch wenn frühere Illustrationen aufgenommen wurden, sind diese nun koloriert und auf modernen Stand gebracht. CS1 ist ein Quellenbuch auf Höhe der Zeit. Dadurch verliert es etwas an Retro-Charme, die Aktualisierung tat aber Not.

Auch der Aufbau des Bandes ist dementsprechend klassisch. Nach dem geschichtlichen Hintergrund werden zentrale Orte vorgestellt, dann folgen Fraktionen, weitere Kreaturen, der Ausrüstungskatalog und nähere Rollenspielregeln, bevor ein abgesonderter Tabletop-Abschnitt folgt. Leider ist diese Aufschlüsselung äußerst grob und die Textstruktur nicht immer klar. Das Inhaltsverzeichnis wird nicht weiter aufgeschlüsselt und die Überschriftenebenen verschwimmen beim Blättern schnell einmal. Es ist Meckern auf hohem Niveau, aber in Puncto Zugänglichkeit hält der Band leider nicht ganz mit. Und auch der viel zu spärliche Index kann da nicht viel retten. Allein die richtige Fraktion zu finden gelingt nicht immer auf Anhieb. Obwohl das Layout professionell ist, geht es vor der Textmenge etwas in die Knie und auch das Update auf ein neues Regelsystem ist meines Erachtens dringend an der Zeit. Hier befindet man sich noch mitten im Detailgrad der 90er und ist mit umfangreichen Statblöcken konfrontiert. Das ist aber sicher Geschmacksache.

Tabeltop-Skirmishing

Etwa 50 Seiten widmen sich abschließend den Skirmish Rules. Die setzen auf ein eigenes Regelsystem das nicht mit den Rollenspielregeln kompatibel ist. Ohne dass ich die Regeln näher testen konnte, enthalten sie auf den ersten Blick alles was man von einem Skirmish-Tabletop erwartet. Basis sind vergleichende Würfe mit einem W10-Poolsystem, das – wie auch das Rollenspiel selber – viel mit Modifikatoren arbeitet.
Das System enthält „Armeelisten“ für alle genannten Fraktionen (Shiver, Scavs, Carrien, Cannibal, 9th Division, DarkNight, Dream Entities sowie Operatives und Sector Rangers) sowie fünf Szenarios. Hervorzuheben ist, dass auch die Angst der Einheiten eine ständige Rolle spielt und wir mit einer Kameradrohne spielen können, die zusätzliche „Rating Points“ generieren kann. Das System macht einen stabilen Eindruck auf üblichem Tabletopniveau und lebt von den ungewöhnlichen Fraktionen. Mir erscheint das System allerdings stellenweise etwas rechenintensiv und umständlich. Aber das ist wieder einmal Geschmacksfrage…

Debriefing

Die etwa 300 Seiten Hintergrundmaterial für CS 1 sind bis zum Bersten gefüllt mit Inhalt. Der düstere, satirische Stil von SLA wird gelungen eingefangen und zieht in seinen Bann. Der eigene Stil der Welt trieft aus jeder Seite und kann auch Rollenspielveteranen überraschen. Hier haben wir es mit einer äußerst eigenen und innovativen Welt zu tun. SLA Industries ist mir schon seit einigen Jahren ans Herz gewachsen und CS 1 kann diese Begeisterung wieder entfachen. Etwas ärgerlich sind nur der seltsame Zwischenstatus des Buches und die etwas mangelnde Übersichtlichkeit. Wer ein wirklich düsteres Sci-Fi Spiel sucht, sollte sich SLA Industries mehr als dringend anschauen. Langjährige OPs, sollten ihre Gauss Rifles Schultern und einen Abstecher in die Sektoren machen. Bis zur zweiten Edition im Sommer!

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